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Diktator

Diktator

Titel: Diktator
Autoren: Stephen Baxter
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aufzurollen.

    Julias goldenes Haar glänzte in einem staubigen Sonnenstrahl. Sie war hochgewachsen, mit langen, muskulösen Armen und Beinen, flachem Bauch und kleinen Brüsten; sie ging wie ein Tier, selbstsicher und im perfekten Gleichgewicht. Ihr Körper war das Produkt eines privilegierten englischen Lebens, dachte Ben, eines Lebens auf Pferderücken und Tennisplätzen, in dem ihre Sexualität von einem gesunden Engländer nach dem anderen ausgeformt worden war. Sie hatte Ben ebenso leicht erobert wie die Engländer einen großen Teil des Planeten.
    Er sehnte sich nach einer Zigarette, wusste jedoch, dass er sich in Gödels Zimmer keine anzünden durfte.
    Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und ging zum Angriff über. »Was tun wir hier eigentlich, Julia? Was willst du?«
    Julia lachte, ein kehliger Laut. Sie war achtundzwanzig, drei Jahre älter als er; ihre Stimmte verriet ihr Alter. »Das ist aber keine sehr nette Frage. Was glaubst du denn, was ich will?«
    »Weiß ich noch nicht. Hat was mit Gödel zu tun. Du hast mich benutzt, um hier reinzukommen, stimmt’s? In dieses Arbeitszimmer.«
    »Kannst du’s mir verdenken? Kurt Gödel ist der größte Logiker der Welt. Man sagt, er begründe eine neue Mathematik. Oder demontiere die alte. So was in der Art, hab ich recht?«
    »Du bist Historikerin. An der Princeton University, nicht hier am Institut für Mathe und Physik. Weshalb interessierst du dich für Gödel?«

    »Du bist immer so was von misstrauisch. Aber das hat dich nicht dazu gebracht, mich abzuweisen. Er ist so ein ulkiger kleiner Mann, nicht wahr? Ein schäbiger Zwerg mit hoher Stirn und dicker Brille, der in seinem Wintermantel durch die Gegend huscht wie ein Kaninchen.«
    »Er ist bekannt für seine Liebschaften mit seinen Studentinnen. Trotz seines nicht sonderlich ansprechenden Äußeren. Ich meine, er ist ja gerade mal erst in den Dreißigern. Damals in Wien …«
    »Als ich Gödel das erste Mal gesehen habe, ging er mit Einstein spazieren. Einstein ist ja nun nicht zu übersehen, oder? Und stell dir vor, er war in Pantoffeln unterwegs, mitten auf der Straße! Weißt du, ob er mit Gödel befreundet ist?«
    »Sie haben sich 1933 kennengelernt, glaube ich. Freunde? Ich weiß nicht. Einstein ist wohl das exotischste europäische Tier hier in diesem amerikanischen Zoo. Aber selbst Einstein musste vor Hitler fliehen.«
    »Ach, Hitler! Ich habe ihm schon mal gegenübergestanden, weißt du.«
    »Wem?«
    »Hitler. Ich habe ihm die Hand geschüttelt. Dass ich ihn kennengelernt habe, würde ich allerdings nicht gerade behaupten; ich bezweifle, dass er sich überhaupt an mich erinnert. Ich war Austauschstudentin, weil ich mit eigenen Augen sehen wollte, was die Deutschen taten, statt die übliche Schauerpropaganda zu schlucken. Das Land lag ja wirtschaftlich am Boden; es ist wirklich erstaunlich, wie sehr es sich binnen weniger
Jahre verwandelt hat. Man hat uns sehr freundlich aufgenommen. Hitler ist eine höchst eindrucksvolle Erscheinung; er hat so eine Art, durch einen hindurchzuschauen. Goebbels dagegen hat mich in den Hintern gezwickt.«
    Ben lachte.
    »Und jetzt seid ihr alle hierhergewuselt, nicht? Seid vor dem Ungeheuer weggelaufen, bis nach Amerika.« Sie rümpfte die Nase. »Dass so ein winziger, verstaubter Raum einen Geist von Weltrang beherbergt! Gödel hätte nach Oxford gehen sollen. Einstein auch. Wäre besser gewesen als das hier . Ich meine, hier gibt’s Kreuzgänge aus Ziegelstein! Bertrand Russell sagt, Princeton sei Oxford so ähnlich, wie es ein Nachbau von Affen nur sein könne.« Sie lachte bezaubernd.
    »Vielleicht fühlen sich Einstein und Gödel hier sicherer als in einem England, wo es Leute wie dich gibt.«
    »Eigentlich bist du nicht sehr nett zu mir, was? Jedenfalls wäre Gödel im Reich nicht in Gefahr. Er ist ja nicht mal Jude.« Sie nahm ein paar Bücher von den Borden und blätterte in deren abgegriffenen Seiten.
    Ben las seine auf dem Fußboden verstreuten Kleidungsstücke auf und begann sich anzuziehen. »Du hast deinen Spaß gehabt. Vielleicht solltest du allmählich damit rausrücken, was du von mir willst.«
    »Tja, es sind da so einige Gerüchte im Umlauf«, sagte sie aalglatt. »Über dich und deinen Professor. Schau dir diese Titel an. Sein und Zeit von Martin Heidegger. An Experiment With Time von John William Dunne. Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins ,
Edmund Husserl. Du hast schon in Wien mit Gödel zusammengearbeitet, und jetzt, wo
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