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Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)

Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)

Titel: Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
Autoren: Lars Amend , Daniel Meyer
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Tränen übers Gesicht.
    »Weißt du, mein Daniel hat doch niemanden. Seit der letzten OP geht er nicht mal mehr vor die Tür. Er verkriecht sich nur noch in seinem Zimmer. Und er hat schon wieder fünf Kilo abgenommen, dabei ist er schon so dünn. Es ist schlimm, wirklich schlimm. Ach, ’tschuldige.«
    Dann legte Mama das Telefon neben sich und schnäuzte in ein Taschentuch. Rocky miaute, und ich flüsterte »pssst« in sein Ohr, damit er unsere Spionageaktion nicht verriet. Ich musste dringend auf die Toilette Nummer eins machen, aber musste erst noch herausfinden, mit wem Mama telefonierte. Mein Pipi musste warten.
    »Daniel war immer ein fröhliches Kind«, erzählte Mama weiter. »Nach der Schule ist er zum Spielen auf den Hof runter, samstags hat er die leeren Pfandflaschen geschnappt, ist die Straße rüber zu Lidl gegangen und hat sie ganz alleine abgegeben. Das war immer sein Stückchen Freiheit. Doch selbst das schafft er heute nicht mehr. Wie oft sind wir früher an den Wochenenden, im Sommer, wenn schönes Wetter war, mit den Fahrrädern auf Tour gegangen. Wir konnten zwar nie weit fahren, weil Daniel dazu keine Kraft hatte, aber immerhin. Alles, was Spaß macht … was ihm Spaß machte, geht heute nicht mehr. Was hat er denn noch vom Leben? Er kann kein Fußball spielen, obwohl er das so gerne würde. Deswegen guckt er sich mit Martin auch keine Spiele mehr an, weil es ihn immer wieder an seine Einschränkungen erinnert. Er hat seinen Schutzmechanismus aktiviert. Nach außen findet er alles langweilig, aber ich sehe doch, wie sein kleines Herz daran zerbricht.«
    Mama weinte wieder. Ich konnte das Pipi jetzt nicht mehr zurückhalten, ließ Rocky in die Küche flitzen und ging schnell aufs Klo. Als ich fertig war, ließ ich die gelbe Pfütze in der Schüssel, weil ich keinen Lärm machen wollte, setzte mich wieder neben die Tür und hörte weiter gespannt zu. Der Boden war noch ganz warm von meinem Popo.
    »Daniel hatte sechs Herz-OP’s, vier Rücken-OP’s, dazu die Reflux-OP, den Hirnschaden, unzählige Untersuchungen. Fast jede Woche. Das Krankenhaus ist unsere zweite Heimat geworden. Die Zähne wurden ihm gezogen, weil sie durch die vielen Medikamente faul wurden. Alles unter Vollnarkose. Und mit jeder Narkose kam das große Zittern … Niemand wusste, ob sein Herz danach wieder anfängt zu schlagen. Die Operationen waren notwendig, und Daniel hatte immer Glück und wachte wieder auf. Aber seit Mai, seit er dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen ist, sind seine Chancen stark gesunken. Jetzt stehen sie 70:30, dass er jede weitere OP nicht mehr überleben wird. Deswegen darf ihm nichts mehr passieren. Er darf nicht hinfallen, nicht stolpern und um Gottes Willen darf er sich nichts brechen. Ach, ich möchte nicht mit ihm tauschen. Sein Leben ist nicht mehr … ich meine … ich sehe ja, wie er eingeht. Mein Sohn hat sich vollkommen zurückgezogen, und die Momente, in denen er nicht mehr leben will, kommen auch immer häufiger.«
    Dann sagte Mama nicht mehr so viel, nickte nur noch mit dem Kopf und schniefte in ihr Taschentuch. Mir wurde langweilig, und ich setzte mich neben Papa auf das Sofa. Er spielte Tennis auf der Wii.
    »Mit wem telefoniert Mama?«, fragte ich nach einer Weile.
    »Weiß nicht«, antwortete Papa. »Aber sie telefoniert schon seit einer Stunde.«
    »Okay«, sagte ich und überlegte, wie lange eine Stunde ist, kam aber auf keine genaue Lösung. Die Ärzte sagen, ich habe kein Zeitgefühl. Das würde an den drei Blutgerinnseln in meinem Kopf liegen, vielleicht aber auch an etwas anderem.
    »Kannst du nicht schlafen?«, fragte Papa.
    »Nein«, sagte ich. »Wegen morgen, wegen Lars.«
    Papa schlug den Ball ins Netz. Ich schaute ihm noch etwas zu, aber er hatte keinen guten Tag erwischt und verlor jedes Spiel. So eine Lusche! Er mag es nicht, wenn ich ihn so nenne, deswegen dachte ich es heimlich für mich. Lusche, Lusche, Lusche. Hihi.
    Ich ging zurück ins Bad, spülte mein Pipi runter und wusch mir die Hände. Mama saß noch immer mit dem Telefon auf dem Bett. Ich gab ihr einen zweiten Gute-Nacht-Kuss. Sie nahm mich in den Arm, und ich freute mich, dass sie von meiner Spionageaktion nichts gemerkt hatte. Ich kann ziemlich gut schauspielern, wenn ich mich konzentriere. Nur lügen kann ich nicht. Dabei werde ich immer rot. Um ehrlich zu sein, hasse ich Lügen. Die Wahrheit zu sagen, hat außerdem einen großen Vorteil: Man muss sich seine Lügen nicht merken. Ich würde bloß
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