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Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Autoren: Justin Cronin
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der anderen Straßenseite rasen. Als er über den Mittelstreifen holperte, trat Kittridge das Bremspedal herunter, riss das Steuer nach links und machte sich schon auf den Aufprall gefasst. Aber das war nicht nötig. Das Gummi kreischte und qualmte, die Reifen fanden Halt, und ehe Kittridge sichs versah, sauste er die Hauptstraße hinunter in den Sommermorgen.
    Er musste es zugeben. Wie hatte Warren sich ausgedrückt? Sie sollten mal erleben, wie wunderbar der sich fährt.
    Es stimmte. So eine Kiste hatte Kittridge noch nie im Leben gefahren.

5
    Eine Zeitlang, lange Zeit, die scheinbar ohne Anfang und Ende war, war der Mann, der unter dem Namen Lawrence Grey bekannt war– ehemaliger Insasse der Strafvollzugsanstalt für Männer in Beeville, öffentlich registrierter Sexualstraftäter, ziviler Angestellter des Projekts NOAH und der Army Division of Special Weapons; Grey der Quell, der Entfessler der Nacht, der Vertraute dessen, der Zero genannt wird–, eine Zeitlang war dieser Mann überhaupt nirgendwo. Er war nichts und nirgends, ein annulliertes Wesen, das weder Erinnerung noch Geschichte besaß. Sein Bewusstsein war zerstreut über ein uferloses, endlos weites Meer, ein dunkles Meer von Stimmen, die seinen Namen murmelten. Grey, Grey. Sie waren da und nicht da, in ihm und außerhalb von ihm, und sie riefen ihn, als er allein dort trieb, eins mit der Dunkelheit, einsam in einem Meer der Ewigkeit, darüber nur die Sterne.
    Aber nicht nur die Sterne. Denn jetzt war noch ein anderes Licht hinzugekommen– ein sanftes, goldenes Licht direkt über seinem Gesicht. Schatten glitten darüber hinweg, langsam kreisend wie die Rotorblätter eines Windrads, und ein Geräusch begleitete dieses Licht: aortengleich, herzähnlich, ein wumm-wumm-wumm, das im Rhythmus der Drehbewegung pulsierte. Grey beobachtete es, dieses wundervolle, kreisende Licht, und ein Gedanke schlich sich in sein Bewusstsein: Was er da sah, war Gott. Das Licht war Gott in Seinem Himmel da oben. Sein Geist schwebte auf dem Wasser und streifte den Erdboden wie der Saum eines Vorhangs, berührte Seine Schöpfung und segnete sie. Dieses Wissen erblühte in ihm wie ein süßer Rausch. So viel Freude! So viel Verständnis und Vergebung! Das Licht war Gott, und Gott war die Liebe. Grey musste nur hinein, musste in das Licht hinein, um diese Liebe in Ewigkeit zu fühlen. Und eine Stimme sagte:
    Es ist Zeit, Grey.
    Komm zu mir.
    Er spürte, wie er in die Höhe stieg, hochgehoben wurde. Der Himmel breitete seine Flügel aus, nahm ihn auf und trug ihn ins Licht. Je höher er stieg, desto unerträglicher wurde es: eine Helligkeit, so grell und alles überlagernd wie der gellende Schrei, der aus seinem Mund gekommen war.
    Grey, der emporstieg. Grey, der Wiedergeborene.
    Öffne die Augen, Grey.
    Er tat es; er öffnete die Augen. Langsam schärfte sich sein Blick. Etwas Dunkles kreiste unangenehm über seinem Gesicht.
    Es war ein Deckenventilator.
    Er zwinkerte die Tränen aus den Augen. Ein bitterer Geschmack wie von nasser Asche überzog die Innenseite seines Mundes. Das Zimmer, in dem er lag, sah aus und fühlte sich an wie ein Zimmer in einem Kettenmotel, ganz unverkennbar– die kratzige Bettdecke und das billige Schaumstoffkissen, die durchgelegene Matratze unter ihm und die billige Kunststoffverkleidung an der Decke über ihm, der Geruch von aufbereiteter, verbrauchter Luft in seiner Nase. Wie er in so ein Zimmer gekommen war, wusste er nicht. Sein Hirn war leer wie ein löchriger Eimer, sein Körper eine formlose Masse, konturlos wie Gelatine. Allein den Kopf zu bewegen erforderte einen Kraftaufwand, der seine Möglichkeiten überstieg. Der Raum war erfüllt von sattem, gelblichem Tageslicht, das durch die Vorhänge sickerte. Der Ventilator über seinem Gesicht drehte und drehte sich und wackelte in seiner Halterung; die ausgeleierten Lager quietschten rhythmisch. Der Anblick war ein Angriff auf seine Sinne, ätzend wie Riechsalz, und trotzdem konnte er nicht wegschauen. (War da nicht auch ein vibrierendes Geräusch in dem Traum, den er gehabt hatte? Ein grelles Licht, das ihn emporhob? Aber er wusste es nicht mehr.)
    » Gut, du bist wach.«
    Auf der Kante des Nachbarbetts saß mit gesenktem Blick ein Mann. Ein kleiner, pummeliger Mann, der seinen Overall ausfüllte wie eine Wurst ihre Pelle. Einer der zivilen Mitarbeiter des Projekts NOAH , der Reinigungskräfte: Männer wie Grey, deren Aufgabe es war, Pisse und Scheiße wegzumachen, Festplatten zu sichern,
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