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Die Zwischenwelt (German Edition)

Die Zwischenwelt (German Edition)

Titel: Die Zwischenwelt (German Edition)
Autoren: Filomena Nina Ribi
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keine Surfer auf dem Wasser; die Berge waren hinter den Wolken und Nebel versteckt. Fiona fielen die vielen Tauben auf, die ein paar Meter vor ihr auf dem Dachvorsprung warteten – es waren sicher zwanzig Tiere. „Die hat es früher nicht gegeben“, dachte sie und erinnerte sich dabei traurig, dass sie schon lange nicht mehr hier gewesen war. Im Haus gegenüber, einige Etagen weiter unten, stellte eine Frau ein mit Brotkrümeln gefülltes Gefäß auf den Fenstersims. Unwissend fütterte die Dame die Vögel gerade in dem Moment, als der Nachbar auf seinem Balkon unter ihr eine Zigarette anzündete und sich sichtlich aufregte. Der Schwarm hob in Richtung Futter ab.
    „Willst du nicht die Kristallgläser mitnehmen?“, fragte Markus, Fionas vier Jahre älterer Bruder.
    „Nein, danke. Ich möchte keine Erinnerungen an ihn. Ich nehme nur die Pflanze auf dem Balkon mit und das Bild, das ich ihm gemalt habe. Den Rest kann das Brockenhaus haben“, antwortet Fiona leise, den Blick noch immer nach draußen gerichtet.
    „Die Pflanze ist aber praktisch schon tot – sie hat lange kein Wasser erhalten. Die sollte man wegwerfen, sie ist sowieso krank“, meinte Markus.
    „Ganz sicher werfe ich sie nicht in den Abfall!“, protestierte Fiona. „Es ist das Einzige, was hier gelebt hat! Ich wäre hier sicher auch nicht aufgeblüht.“
    Markus näherte sich seiner Schwester. „Du bist ja richtig grau geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.“
    „Was du nicht sagst. Danke für die Information, ich habe keinen Spiegel zu Hause“, erwiderte sie.
    „Wie alt bist du jetzt? Erst dreißig, oder? Willst du die Haare nicht färben?“
    Markus’ kurze schwarze Haare waren wahrscheinlich gefärbt – und mit einer großzügigen Menge Gel aerodynamisch nach hinten gekämmt.
    Fiona warf ihm und seinen dunklen Haaren noch einen bösen Blick zu und ignorierte seine Frage. Dann schaute sie wieder in die Ferne „Du ähnelst immer mehr Vater, das kommt nicht gut“, meinte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Schade. Es wäre eine wunderbare Aussicht …“
    Die gegenüber fressenden Tauben hatten weitere Tauben und Spatzen angelockt – eine wahre Hysterie war draußen ausgebrochen: Federn und Kot flogen in alle Richtungen, auch zum rauchenden Nachbarn.
    „Ja, die Aussicht ist wirklich toll“, sagte Markus mit euphorischem Ton, aber ohne überhaupt hinauszuschauen. „Übrigens: Morgen wird Sibylla jemandem die Wohnung zeigen – sehr wahrscheinlich finden wir auch außerterminlich einen Nachmieter!“
    Sibylla … Als sie diesen Namen hörte, bildete sich eine tiefe senkrechte Zornfalte auf Fionas Stirn. „Sibylla ist eine Pest! Eine Schlange!“, zischte sie. „Sie hat alles getan, um die Beziehung zwischen mir und Vater zu zerstören. Schleimig ist sie! Sie hat sich überall eingemischt und tut es auch jetzt noch! Unglaublich, Markus! Siehst du das denn nicht?“
    „Fiona, sei nicht kindisch. Für die Beziehung zwischen dir und Vater waren allein du und er verantwortlich!“
    Viele Jahre zuvor war die Welt noch einigermaßen in Ordnung gewesen, erinnerte sie sich. Vater Ernst Costanzo, von Beruf Arzt, hatte zusammen mit seiner Ehefrau Martina Costanzo und den gemeinsamen Kindern Markus und Fiona in einem schönem Einfamilienhaus an der Goldküste gewohnt – einer wohlhabenden Gegend am Zürichsee. Sibylla war in Fionas Familie ein bekannter Name – man nannte sie auch den „Trennungsgrund“, seit Mutter Martina ein fremdes Parfum auf den Hemden ihres Ehemannes gerochen hatte. Die Trennung von Ernst und Martina fand aber nur seelisch statt, denn physisch blieben sie weiterhin jahrelang unter demselben Dach wohnen; nur so konnte die Fassade der heilen Welt und heilen Familie bewahrt werden. Alle wussten davon, aber niemand sprach darüber.
    Sibylla, der Trennungsgrund, war stabil gebaut. Sie war immer todbleich und ihre langen krausen Haare sahen so aus, als ob sie am Morgen zuerst ihre Finger in eine Steckdose gesteckt hätte. Ihre Frisur war außer Kontrolle und dazu noch knallrot – diese Mähne konnte einem fast Angst einjagen. Dasselbe Rot fand sich auch auf den langen lackierten Finger- und Zehennägeln wieder. Ihre Augen hingegen waren pechschwarz; der Unterschied zwischen Pupille und Iris war fast nicht erkennbar und man hatte den Eindruck, man würde in tiefe Löcher hineinschauen. Diese Farben waren Warnsignale – Sibylla war schön und giftig wie eine Korallenschlange. Sibylla war
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