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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht
Autoren: Ann Aguirre
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waren schon schlimm genug. Kurz hintereinander streckte ich fünf weitere nieder, dann musste ich aus Harrys Munitionspäckchen nachladen. Miles’ Gewehr war gut gepflegt, der dunkle Lauf und der Kolben aus Walnussholz glänzten in der Sonne, aber ich hätte trotzdem lieber Draufgängers Waffe gehabt– als Andenken, das ich in Ehren halten konnte.
    Wir hatten die Freaks schon eine ganze Weile erfolgreich zurückgeschlagen, als es passierte. Wie so oft bei großen Katastrophen fing es ganz klein an, und zuerst schenkte ich den Stimmen hinter uns keine Beachtung. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Freaks abzuschießen. Auch Harry war vollkommen auf seine Aufgabe konzentriert und ließ sich nicht ablenken.
    Aber die Stimmen wurden immer lauter. Ich blendete sie aus und feuerte weiter, bis der Angriff vorüber war. Überall lagen blutüberströmte Kadaver, und der Gestank war mit jeder Leiche schlimmer geworden. In der Ferne hörte ich das Klagegeschrei der Freaks und andere grässliche Laute, die wohl ihre Sprache waren.
    Schließlich wurde es mir zu dumm. Ich wirbelte herum und wollte den Pöbel zum Verstummen bringen, aber was ich sah, verschlug mir die Sprache. Caroline Bigwater stand mit einer Gruppe Männer und Frauen am Fuß der Mauer, und sie alle starrten mit dem gleichen anklagenden Ausdruck im Gesicht zu mir empor. Mrs. Bigwater hielt ein Buch in den Händen, das in etwa so alt sein musste wie Tagjunge und Nachtmädchen .
    Â» Da seht ihr es!«, rief sie mit schriller Stimme. In ihren Worten lag eine Mischung aus Hass, Angst und Verachtung. » Schaut sie euch an, zurechtgemacht wie ein Mann. Wir wissen, was passiert, wenn sich der Mensch gegen den Willen des Himmels auflehnt. In all den Jahren, die seit der Stolzseuche vergangen sind, wurde Erlösung noch nie auf so schreckliche Weise heimgesucht. Etwas muss dagegen getan werden, sonst werden wir alle den Preis dafür bezahlen.«
    Die Menge rumorte, und ich warf Harry einen kurzen Blick zu, ob er vielleicht der gleichen Meinung war.
    Er legte mir sanft eine Hand auf den Arm und flüsterte: » Bleib. Ich werde nicht zulassen, dass sie dich holen.«
    Holen? Weshalb?
    Mrs. Bigwater klappte das Buch auf und las mit lauter Stimme vor: » ›Und das Weib soll sich schamhaft kleiden in züchtige Gewänder. Es soll arbeiten in aller Stille und Untertänigkeit. Es soll stets klug sein im Geiste und rein im Herzen, soll schaffen im Haus und leben unter der Herrschaft seines Mannes, auf dass kein Übel uns befalle.‹«
    Sie schaute zu mir herauf, um zu sehen, wie ich reagieren würde. Zornige Schreie erhoben sich, und ich sah die hasserfüllten Blicke in der Menge. Unten hatte ich schon einmal etwas ganz Ähnliches erlebt, und deshalb wusste ich, dass diese Auseinandersetzung nicht gut für mich ausgehen konnte.
    Â» Caroline hat recht!«, kreischte eine Frau. » All das hat angefangen, als sie kam.«
    Â» So ist es«, bekräftigte Mrs. Bigwater. » Und hier steht geschrieben, weshalb: ›Das Weib soll nicht tragen die Waffen und Rüstung eines Kriegers, noch soll der Krieger tragen das Gewand einer Frau, denn die, die solches tun, sind dem Himmel ein Gräuel. Und er wird jene mit seinen Plagen strafen, die solche Abscheulichkeit in ihrer Mitte dulden.‹«
    Ich stand da in der Kleidung eines Mannes und mit einem Gewehr in der Hand und konnte es nicht fassen. Stimmen wurden laut, wie Erlösung sich am besten jetzt und sofort von mir reinwaschen könne. Ich wagte nicht einmal mehr, mich zu bewegen. Ich erkannte diese Menschen nicht wieder. Angst und Verlust hatten sie gebrochen und zu Zerrbildern ihrer selbst gemacht.
    Â» Wie können wir es richten, Caroline?«, fragte ein Mann.
    Sie lächelte mich an, sanft und fromm wie eine Heilige. » Liebes, bestimmt möchtest du nicht, dass wir alle sterben müssen, nicht wahr? Ich bin sicher, du weißt , was du zu tun hast.«

UNVERMEIDLICH
    Â» Was in aller Welt geht hier vor?« Elder Bigwater sprach nicht immer so laut, nur wenn es nötig war, und die Wirkung war entsprechend. Die Menge zuckte zusammen, und die meisten blickten schuldbewusst zu Boden, blieben aber, wo sie waren. Mrs. Bigwater wandte sich gelassen ihrem Gatten zu. Der Mob in ihrem Rücken gab ihr Sicherheit. Ich wusste, sie brauchten jemanden, dem sie die Schuld geben konnten, aber das änderte auch nichts an
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