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Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Titel: Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
Autoren: Ralf Isau
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Vater?«, keuchte es hinter ihm.
    Er wandte sich zu dem Jungen um. Malakhs kindlich weiche Kinnbarteln zitterten in der Ätherströmung – die einzige Art von Wind, die es auf Dagonis gab. »Halt durch, Sohn. Es ist nicht mehr weit bis zum Gipfel.«
    »Könntet Ihr mir die Amphore nicht eine Weile abnehmen?«
    »Nein. Du musst sie selbst tragen. Sonst wäre alles umsonst.«
    Das Henkelgefäß bestand aus zu Glas geschmolzenem Sternenstaub. Der Knabe hatte sichtlich Mühe, es die Bergflanke hinaufzuschleppen. Sein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht schimmerte im rötlichen Licht des Trankopfers. Das Leuchten rührte von einer der beiden Hauptzutaten her: geläuterter Angst.
    Genau genommen handelte es sich um die konzentrierte Energie der Furcht. Tausende Menschen waren in den Feueröfen zu Peor gestorben, um das Elixier zu gewinnen. Und viele Hundert Frauen hatten um ihre neugeborenen Kinder gebangt, damit es zu einem besonderen Lebenssaft für Dagon würde. Gaal hatte nämlich in den Göttertrank eine zweite, kaum weniger machtvolle Ingredienz gemischt. Es war wohl angemessen, sie als den eigentlichen Rohstoff des Lebens zu bezeichnen.
    Malakh ächzte. Für einen sechsjährigen Antisch besaß er zwar eine erstaunliche Kraft, aber die bis zum Rand gefüllte Amphore war schwer wie ein Schmelztiegel voll flüssigen Eisens. Die kurze, ärmellose, aus schneeweißer Wolle gewebte Tunika des Prinzen leuchtete blutrot im Widerschein des Trankopfers. Wie sehr der Junge mit seiner blass getigerten Haut doch Reghosch glich!
    Beim Gedanken an den Sohn, den ihm die komanaische Regentin Lebesi geboren hatte, ging Gaal ein Stich durchs Herz. Er schnaubte unwillig. Solche Empfindungen machten ihn reizbar. Sie waren wie ein verrostetes Schwert, auf das man sich nicht verlassen konnte. Der König von Dagonis musste stark sein und durfte sich nicht von väterlichen Gefühlen schwächen lassen. Er hätte der Stammvater eines neuen Antischgeschlechts werden sollen. Aber Taramis hatte ihn getötet. Bald würde der elende Mörder dafür bezahlen.
    Vor dem inneren Auge des Königs erschien ein lichtes Band, das ihm die Richtung zu diesem verfluchten Lurch wies. Unwirsch riss er sich den hölzernen Ring vom Kopf, dem er die Sinnestäuschung verdankte. Manchmal war der Reif der Erkenntnis weniger Segen als Fluch. Er las die Gedanken seines Trägers und zeigte ihm den Weg zu demjenigen, den er am sehnlichsten zu finden begehrte. Auch wenn es der meistgehasste Feind war. »Eins nach dem anderen«, murmelte Gaal und setzte sich die Krone des Wissens erneut aufs Haupt.
    Endlich erreichten sie den Kraterrand.
    »Du darfst das Gefäß abstellen. Aber sei vorsichtig!«, sagte der Vater zum Sohn.
    Malakh ließ die Amphore behutsam zu Boden sinken. Weil sie nach unten spitz zulief, musste er sie weiter festhalten, damit sie nicht umkippte und ihren kostbaren Inhalt zu früh entleerte.
    Der König blickte in den finsteren Schlund des Gedogh. Die Weisen behaupteten, er sei bodenlos, doch gebe es Zugänge in allen Welten, die Melech-Arez einst erschaffen habe. Der Götterfürst hatte seinen Knecht Dagon zum Herrscher über Berith eingesetzt. Er wäre es immer noch, wenn Gao ihre Rebellion nicht mit dem Großen Weltenbruch beendet hätte. Vorübergehend.
    »Beginnen wir das Ritual der Erneuerung«, sagte Gaal und deutete auf das leuchtende Gefäß.
    »Was muss ich damit tun, Vater?«, fragte Malakh.
    »Es ist ein Trankopfer. Leere es vorsichtig in den Götterschlund. Aber gib acht, dass kein Tropfen zu Boden fällt!«
    Der junge Antisch hievte den Behälter wieder hoch.
    »Geh dicht an den Rand des Kraters heran.«
    Malakh trat einen Schritt vor und neigte die Amphore. Wie Öl floss die Opfergabe heraus und ergoss sich ins Dunkel des Schlunds. Das Elixier glich einem leuchtenden Faden, der die Welt der Lebenden mit dem Ruheort des schlafenden Gottes verband. Als oben der letzte Tropfen aus der Opfervase rann, hatte unten der erste immer noch keinen Boden erreicht. Das Leuchten verging einfach in der unergründlichen Finsternis.
    Mit einem Mal spürte der König, dass sich in dem Loch etwas rührte. Er hörte ein Grollen wie von fernem Donner. Gaals Herz begann heftig zu schlagen. Es fiel ihm schwer, an sich zu halten und nicht vor Begeisterung zu schreien – die Würde des Augenblicks verbot derlei Unbeherrschtheit. Endlich zahlten sich seine jahrelangen Studien aus! Er hatte das Rätsel der drei Opfer gelöst. Oder zumindest das des ersten, denn der
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