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Die Zeit des Boesen

Die Zeit des Boesen

Titel: Die Zeit des Boesen
Autoren: Vampira VA
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Gestalt rührte an Dingen tief in ihm, denen längst die Kraft fehlte, sich zu erheben. Triebe wollten auflohen, doch sie fanden nichts mehr, was ihnen Nahrung gewesen wäre. Jiri sah in ihr ebenmäßiges Gesicht unter dem kurzen Haar, das sie zu ihm herabgewandt hatte. Und schließlich begegnete sein Blick dem ihren.
    Die Farbe ihrer Iris vermochte er nicht zu bestimmen, weil etwas anderes seine angestrengt aufrechterhaltene Aufmerksamkeit an sich band: der merkwürdige Ausdruck in ihren Augen.
    Leer schien er ihm, an der Oberfläche jedenfalls; denn jenseits dieser Leere war etwas. Als wären ihre Pupillen dunkle Schächte, die tief in das Weiß ihrer Augäpfel hineinreichten und an deren Grund sich etwas rührte, matt und mühevoll, als wäre es noch zu kraftlos, um den Blick zur Gänze mit Leben zu erfüllen. Doch die Bewegung tief in dieser Schwärze geriet im Wortsinn zusehends in Wallung. Mit jeder Sekunde, die Jiri dem Blick der Fremden standhielt, gewann sie an Macht - während etwas in ihm versiegte, wie eine Quelle, aus der hastig geschöpft wurde, ohne daß sie fürderhin gespeist wurde »Wer bist du?«
    Der Hirte verstand selbst kaum seine Worte. Seine Stimme rasselte wie rostiges Eisen, das aneinanderrieb. Und selbst der Geschmack, der mit den Worten seinen Mund füllte, erinnerte ihn daran. Er schmeckte alt und legte sich ihm wie eine klebrige Kruste auf Zunge und Gaumen.
    Etwas Neues mengte sich in den Ausdruck der Augen, die von oben auf ihn herabsahen. Hätte Jiri geglaubt, daß die Frau zu einer solchen Regung fähig gewesen wäre, hätte er es für Trauer oder eine Art schwache Verzweiflung gehalten.
    Aber das tat er nicht. Sie hatte furchtbare Dinge in Gang gesetzt, denn obschon er keine Vorstellung davon hatte, wie sie es getan hatte, so wußte er doch, daß sie die Schuld an allem trug - daran, daß Flav sich selbst getötet hatte, und daß er seinen Bruder Frantisek ermordet hatte. Nein, ein Weib wie sie konnte zu keiner anderen Empfindung fähig sein als Haß und Bösartigkeit.
    Unwillkürlich fröstelte der Hirte erneut, als er sich die Frage stellte, was wohl der eigenartige Ausdruck in ihrem Blick bedeuten mochte - und was ihm für eine neue Ungeheuerlichkeit folgen würde .
    Er erfuhr es nie.
    Als die Frau den Mund öffnete, meinte er zwar, sie würde antwor-ten. Und im ersten Moment bewegten sich ihre Lippen und die Zunge dahinter auch, als wollte sie zum Sprechen ansetzen.
    Doch letztlich tat sie nichts anderes, als zu schreien!
    Schrill, markerschütternd, schrecklich - - und endlos.
    Aber auch das bekam Jiri nicht mehr mit.
    Denn während die Fremde brüllte, nahm das Wogen tief in ihren Pupillen zu. Und der Hirte fühlte, wie im gleichen Maße die Kraft aus ihm floß. Seine mageren Muskeln schienen schmerzhaft zu verhärten, fast zu versteinern, und seine Haut verlor den letzten Rest ihrer Elastizität, spannte sich wie trocknendes Leder um Fleisch und Knochen.
    Als der Schmerz kaum noch erträglich schien, brach er ab.
    Die Frau verstummte. Dann verließ sie das Haus, ohne die Tür zu schließen.
    Ein hereinfahrender Luftzug genügte, den im Sitzen erstarrten Leib des Hirten umzustoßen. Raschelnd wie Papier trieb der Wind Jiris dürren Leichnam in den Schoß des ebenso gealterten und verdorrten Frantisek. Der Tod vereinte die Brüder in einer Eintracht, die sie zu Lebzeiten nicht mehr gekannt hatten.
    *
    Obgleich so vieles geschehen ist, habe ich auf kaum eine meiner Fragen eine Antwort gefunden. Noch immer weiß ich nicht, wer ich bin, noch woher ich komme; und ebensowenig weiß ich, was ich hier tue und was mit mir vorgeht.
    Allein die Frage nach dem Ort meiner Gegenwart vermag ich inzwischen zu beantworten. Wenn auch nicht zu meiner Zufriedenheit. Ich sehe nur, daß das Haus, in dem ich mich aufhalte, in wenig gepflegtem, fast schon heruntergekommenem Zustand ist. Zugleich kommt es mir auf eine Weise alt vor, die doch nichts mit diesem Zustand zu tun hat. Es ist die Art, wie es gebaut und eingerichtet ist, die mir - nun, eben nicht vertraut scheint. Wenngleich ich nicht weiß, wie etwas sein müßte, damit es mir vertraut erschiene.
    Nein, meine Fragen sind nicht weniger geworden. Und an diesem Ort wird niemand mir sie beantworten können. Denn eines weiß ich doch: Tote reden nicht. Diese beiden Toten hier zumindest würden es nicht tun .
    Welch seltsamer Gedanke .
    Ich muß nach anderen Quellen suchen, aus denen ich meinen Wissensdurst, der wie tatsächlicher Durst in mir
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