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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer
Autoren: Glenn Cooper
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Klasse, ein schönes Zimmer im Royal Monceau und ein formidables Abendessen spendieren.
    Luc widmete sich wieder seinem Artikel, einer Studie über die Bevölkerungsentwicklung der europäischen Jäger und Sammler während des eiszeitlichen Kältemaximums im Jungpaläolithikum. Wenn die Berechnungen seines Teams zutrafen, dann hatten vor dreißigtausend Jahren nicht einmal fünftausend Menschen in ganz Europa gelebt – eine unglaublich geringe Zahl. Wenn die nicht im Périgord, in Kantabrien und an der iberischen Küste Zuflucht vor der tödlichen Kälte gefunden hätten, wären weder diese kichernden jungen Frauen noch irgendjemand anderes hier im Zug.
    Die Frauen hörten nicht auf, zu flüstern und ihm Blicke zuzuwerfen. Vielleicht langweilten sie sich. Vielleicht war er aber auch ganz einfach unwiderstehlich mit seinem üppigen schwarzen Haar, das ihm knapp über den Kragen reichte, dem Zwei-Tage-Bart und seinen in engen Jeans und Cowboystiefeln steckenden Beinen. Er wirkte sehr viel jünger, auch wenn seine Lesebrille eigentlich verriet, dass er in Wirklichkeit schon vierundvierzig Jahre alt war.
    Ein weiteres verstohlenes Lächeln von der hübscheren der beiden Frauen brach schließlich seinen Widerstand. Mit einem Seufzer legte er das Manuskript beiseite, stand auf und ging zu ihnen hinüber. Mehr als ein freundliches Hallo brauchte es nicht.
    »Hallo!«, grüßte das Mädchen am Gang enthusiastisch zurück. »Meine Freundin und ich fragen uns schon die ganze Zeit, wer Sie wohl sind.«
    Er lächelte. »Ich bin Luc.«
    »Sind Sie beim Film?«
    »Nein.«
    »Beim Theater?«
    »Das auch nicht.«
    »Was machen Sie denn dann?«
    »Ich bin Archäologe.«
    »Wie Indiana Jones?«
    »Genau. Wie Indiana Jones.«
    Die Frau warf ihrer Freundin am Fenster einen raschen Blick zu und fragte: »Hätten Sie vielleicht Lust, einen Kaffee mit uns zu trinken?«
    Luc zuckte mit den Schultern und dachte kurz an seinen Artikel.
    »Aber klar«, antwortete er. »Warum nicht?«

DREI
    Wie immer an einem schönen Tag machte General André Gatinois einen zügigen Mittagsspaziergang durch den Père-Lachaise-Friedhof in Paris. Auch mit über fünfzig Jahren schlank und fit zu bleiben war ein ziemlich anstrengendes Unterfangen, das einen ganz schön auf Trab halten konnte. Je älter er wurde, desto häufiger sah sich der General genötigt, seiner Figur zuliebe das Mittagessen durch einen mehrere Kilometer langen Spaziergang zu ersetzen.
    Père-Lachaise war der größte und weltweit wahrscheinlich meistbesuchte Friedhof in Paris. Hier befanden sich die Gräber von vielen berühmten Persönlichkeiten wie Proust, Chopin, Balzac, Oscar Wilde und Molière. Sehr zu Gatinois’ Missfallen lag hier allerdings auch Jim Morrison, der legendäre Gitarrist der Doors. Jedes Mal, wenn Gatinois eine neue »TO JIM« -Schmiererei entdeckte, die irgendein bekiffter Morrison-Fan mit dazugehörigem Pfeil als Wegweiser an einen Grabstein gesprüht hatte, beschwerte er sich beim Friedhofsverwalter. Der hatte dafür allerdings nie mehr als ein Achselzucken übrig.
    Obwohl der Friedhof Père-Lachaise nur einen Kilometer von Gatinois’ am Boulevard Mortier gelegenen Büro entfernt war, ließ sich der General von seinem Fahrer bis ans Friedhofstor bringen, damit er jede Minute seines Spaziergangs im Grünen verbringen konnte. Die Nummernschilder auf dem schwarzen Dienst-Peugeot sorgten dafür, dass der Chauffeur während der Wartezeit keine lästigen Fragen beantworten musste.
    Spätsommertage wie diesen mochte Gatinois ganz besonders. Er liebte das Rascheln des schon etwas herbstlich verfärbten Laubs in der leichten Brise. Das über fünfzig Hektar große Gelände des Friedhofs war so weitläufig, dass Gatinois seine Spaziergänge beliebig variieren konnte. Mit seinem teuren blauen Anzug und dem militärisch kurzgeschnittenen Haar unterschied er sich deutlich von den anderen Friedhofsbesuchern, die meist Jeans und Sweatshirts oder andere Freizeitkleidung trugen.
    Er hatte bei seinem Spaziergang diesmal die Zeit vergessen, sodass er auf dem Rückweg ein ziemliches Tempo vorlegen musste, um noch rechtzeitig zur Stabssitzung zu kommen. Erst als er an einem besonders großen und prächtigen Grabmal auf einer kleinen Anhöhe vorbeikam, verlangsamte er seine Schritte und legte eine kurze Pause ein. Er stand vor einer Gruft im neobyzantinischen Stil, in der sich zwei von Marmorstatuen flankierte Sarkophage befanden. Es war das Grab von Héloïse und Abélard, dem
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