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Die Zauberquelle

Titel: Die Zauberquelle
Autoren: Judith Merkle-Riley
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wir für die Herzogin vernähen sollen?«

»Da wart îm der sin benomen
    unde er wolde îr nît wol,
    daz foier soit sî bekomen,
    so waz er des zornes vol.«

    »Vielleicht hat sie sich geirrt. Der Stoff reicht nicht. Wir müssen fragen, ehe wir zuschneiden.« Und dann nahmen sie noch einmal an dem langen Mädchenhemd Maß, das ihnen als Vorlage diente, und gaben mit Hilfe der geknoteten Schnur drei Zoll zu.
    »Falls sich Dame Petronilla geirrt hat, ich für mein Teil weise sie nicht darauf hin«, sagte die Näherin.
    »Dann mache ich mich selbst auf die Suche nach Dame Katherine«, sagte die Lady. Sie legte ihre Schere beiseite, entfernte sich durch die offene Tür und überließ es der Näherin, sich wegen des Stoffs den Kopf zu zerbrechen und zu überlegen, wie man am besten anstückelte, ohne daß es auffiel.
    »Was soll das heißen, der Stoff reicht nicht?« kam eine scharfe Stimme durch die offene Tür. »Beschuldigt ihr mich, etwas abgeschnitten zu haben? Ach, ein Fehler! Ich mache keine Fehler.« Die Nadeln wurden nicht weiterbewegt, die Näherinnen blickten sich an.
    »Lady Petronilla«, flüsterte eine. »Warum unsere gute Herzogin die wohl zur Helferin der Beschließerin gemacht hat?« Schritte eilten an ihrem kleinen Halbrund vorbei, begleitet von einem Eishauch, einem eisigen Gefühl. Sie blickten auf und sahen den Rücken von Dame Petronilla de Vilers, die sich steif und aufrecht zum Tisch begab, während die Schleppe ihres schweren schwarzen Gewandes hinter ihr über den gefliesten Boden raschelte.
    »Ich habe gehört, daß der Herzog Dame Isabella aus Frankreich eine Liste mit Namen von Rittersfrauen geschickt hat, denen sie in ihrem Haushalt den Vorzug geben soll.«
    »Dann ist Lady de Vilers' Ehegemahl gefallen?« tuschelte eine andere Näherin angesichts des schwarzen Gewandes.
    »Nein, sie soll einen Sohn verloren haben.«
    »So alt sieht sie mir nicht aus, daß sie schon einen Sohn in Frankreich verlieren konnte.«
    »Nein, einen Säugling. Sir Hugo, ihren Mann, hat die Kunde völlig niedergeschmettert, und als sie darum gebeten hat, den Ort verlassen zu dürfen, wo ihr Sohn gestorben ist, hat er seinen Einfluß geltend gemacht und sie hierhergeschickt, wo sie in Gesellschaft ist und von ihrem Verlust abgelenkt wird.«
    »So klein? Und deswegen geht sie ganz in Schwarz? Übertrieben für einen Säugling, wenn ihr mich fragt.«
    »Ladys sind vermutlich anders als wir.«
    »Und auch anders als die da«, zischelte es gehässig.

»Daz foier man îr bereytet
    von holtze unde gar hoch,
    schoen Elinor man geleytet,
    eyn groz jamer waz es doch…«

    Die Frau in Schwarz maß die auf dem Tisch ausgebreitete Stoffbahn mit verächtlichem Blick. »Ihr müßt ansetzen – oder mehr holen lassen –, doch das war in der Truhe die letzte Stoffbahn aus London.«
    »Aber… Aber Lady Isabella will, daß wir nicht ansetzen und daß das Hemd rechtzeitig zu Ostern fertig ist…«
    »Dann macht es fertig«, sagte Dame Petronilla und wandte sich jäh zum Gehen. Sie war ein wenig größer als der Durchschnitt, hatte harte blaue Augen und schmale gleichmäßige Züge, die jedoch durch eine etwas platte und schiefe Nase entstellt wurden, so als hätte sie sich einst das Nasenbein gebrochen. Sie trug einen schwarzen, mit dunkelgrüner Stickerei verzierten Surkot aus importiertem Samt. Ihr volles honigblondes Haar war zu Zöpfen geflochten, die sie unter einem zarten Schleier aus Leinen fest zusammengerollt hatte. Einem sehr zarten Leinen, o ja, ausnehmend zart. Hatte sie etwa…? Eine der nähenden Frauen warf einen Blick auf die schöne Leinenbahn, die auf dem Tisch lag, Leinen, das man für Lady Blanches neues Osterhemd aus der Leinentruhe geholt hatte.
    »Belästigt mich nicht noch einmal mit eurer Unfähigkeit. Ihr habt mich auf dem Weg zum Gebet aufgehalten.« Ein schweres Kruzifix mit einem gequälten Corpus Christi aus vergoldetem Silber mit roten Emailletupfern und Rubinen hing auf ihrer Brust. Um die Mitte trug sie neben ihrem Beutel und den Schlüsseln, die man ihr anvertraut hatte, einen Rosenkranz aus schwarzen Perlen, an dem wiederum ein Kreuz hing, dieses jedoch aus gepunztem Silber. Die Hände vor der Brust gefaltet, in den Augen ein eigentümliches Glitzern, so eilte sie aufrecht und kalt aus dem Raum.
    Eine überaus gottgefällige Lady, dachte die Frau mit der Schere. So viele Stunden im Gebet. Ja, sie hat sogar ihren eigenen Beichtvater vom Land mitgebracht. Ihr Blick blieb kurz an dem wehenden
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