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Die Zarentochter

Die Zarentochter

Titel: Die Zarentochter
Autoren: Petra Durst-Benning
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im Gange. Die Gouvernanten durchforsteten gemeinsam mit Mutters Hofdamen sämtliche Räume des Katharinenpalastes, die Gärtner und Hausangestellten durchkämmten die weitläufigen Parkanlagen und Neben gebäude. Nikolausschickte einen Teil seiner Männer in die nahen Wälder, andere zu Pferd in die offene Landschaft. Sascha und weitere Männer sollten zu den umliegenden Landgütern reiten – vielleicht war Kosty zu einem seiner Spielkameraden unterwegs?
    Nisi, Mischa und Adini wurden samt ihren Kindermädchen eingesperrt. Niemand wollte riskieren, dass im allgemeinen Trubel noch ein Kind verlorenging. Mary bot sich an, mit auf die kleineren Geschwister aufzupassen.
    Olly war zu nichts eingeteilt worden. Aber einfach nur dasitzen und abwarten? Sie schnappte sich eine Jacke und rannte los.
    Immer wieder begegneten ihr Gärtner, Hausangestellte und anderes Personal – niemand hatte Kosty gesehen. Im chinesischen Dorf war er nicht, auch nicht in der knarrenden Laube, nicht in der Grotte und in keinem der Pavillons – Olly sah den Leuten an ihren mutlosen Gesichtern an, dass sie die Suche am liebsten abgebrochen hätten. Verdenken konnte sie es ihnen nicht – alle waren bis auf die Knochen durchnässt, der eisige Ostwind pfiff durch ihre Kleider, so dass man das Gefühl hatte, völlig schutzlos zu sein. Auch ihr selbst war eiskalt, sie spürte ihre Hände und Füße kaum mehr, ihr Gesicht schmerzte vom peitschenden Wind.
    »Aufgeben gilt nicht!«, versuchte sie sich Mut zuzusprechen, während sie zum wiederholten Male die Hainbuchenhecken in der Nähe des großen Sees durchstreifte, die als eine Art Labyrinth angelegt worden waren. Aber mit jeder Minute, die verstrich, wurde ihre Sorge größer, malte sie sich die Gefahren, in denen sich ihr Bruder befinden konnte, schrecklicher aus.
    Kosty … Das magere Bürschchen mit der Brille, hinter der die Augen so groß wirkten, war ihr von den drei Kleinsten der liebste. Er war ein so frohes Kind, so phantasievoll, so –
    Womöglich war er schon … tot!
    Tränen schossen Olly in die Augen, das Grün der Hecken verschwamm vor ihren Augen, sie schluchzte auf –
    »Großfürstin, sind Sie das? So weinen Sie doch nicht, ich bin’s«, ertönte plötzlich eine bekannte Stimme hinter ihr.
    »Mischa?« Blindtappte Olly im Labyrinth umher, ihr rechter Blusenärmel verhakte sich im Dickicht der Äste, bis sie endlich den Ausgang gefunden hatte.
    »Mischa!«, rief sie und wunderte sich über die große Erleichterung, die sie beim Anblick des Bootsjungen verspürte. Er, der das ganze Jahr über hier in Zarskoje Selo lebte, kannte den Park rund ums Schloss besser als sie alle zusammen – vielleicht hatte er eine Idee, wo man noch suchen konnte!
    »Noch immer keine Spur von Großfürst Konstantin?«, fragte der Bootsjunge und zog sich seine Kappe zum Schutz gegen den Regen tiefer in die Stirn.
    Olly schaute kopfschüttelnd auf ihn hinab. Er war zwar im selben Alter wie sie, aber einen guten Kopf kleiner. Irgendwie erinnerte er sie an Kosty, jedenfalls war er genauso mager wie ihr Bruder. Und so, wie er ständig die Augen zusammenkniff, war bestimmt auch er blind wie ein Märzenhase! Olly nahm sich vor, ihre Mutter zu fragen, ob man nicht eine Brille für Mischa besorgen konnte.
    »Ich weiß wirklich nicht mehr, wo ich noch suchen soll.« Schulterzuckend blinzelte sie gegen die Regentropfen an, die ihr in die Augen liefen.
    Mischa wies in Richtung des großen Sees, dessen Wasser vom Wind regelrecht aufgepeitscht war. »Gott sei Dank ist er nicht da draußen …«
    Olly nickte. »Ja, Kosty liebt die Seefahrt über alles, da hätte es gut sein können, dass er sich ein Boot schnappt. Aber irgendjemand hat mir gesagt, dass alle Boote im Bootshaus liegen – das stimmt doch, oder?«, fragte sie in stockendem Russisch.
    »Ja, sie sollen in den nächsten Tagen überholt werden. Außerdem – auf dem See hätten wir Ihren Bruder ja sofort entdeckt.«
    Krampfhaft dachte Olly nach. »Hat auch schon jemand im Bootshaus nachgesehen?«
    Mit einem lauten Knarren öffnete sich die riesige Tür der Admiralität. Sofort schlug ihnen der Geruch von Teer, Algen und nassem Holz entgegen. Während Olly zaghaft im Türrahmen stehen blieb, tratMischa an ein Regal und kramte Streichhölzer hervor. Er ent
    zündete eine kleine Laterne.
    »Großfürstin, schauen Sie, da!«
    Vor dem Steg, der von der Mitte des Bootshauses aus direkt ins Wasser führte und an dessen linker und rechter Seite ein halbes Dutzend
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