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Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Titel: Die Witwen von Paradise Bay - Roman
Autoren: Random House
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so als stünde die Geschäftsführung von Chanel gleich neben ihr und wollte ihre Idee stehlen. »Daddy sagt immer, wenn man die gute Luft von Neufundland in Flaschen füllen könnte, wäre man ein gemachter Mann.« Im Grunde sucht Marianne die Aufmerksamkeit ihres Vaters, und dieses Experiment ist bloß ein trauriges Buhlen um Anerkennung auf einem Gebiet, zu dem Ches eine sehr entschiedene Meinung hat.
    Marianne hat dann tatsächlich einen Duft zusammengebraut, der frisch und überraschend süßlich ist. Er enthält eine Spur von Feuchtigkeit, aber es riecht nicht nach muffigem Keller, sondern nach dem zarten Tau eines Frühlingsmorgens. Jedenfalls brachte das Parfum Marianne eine Fahrt nach St. John’s zur Wissenschaftsmesse ein und damit die Chance auf ein Universitätsstipendium.
    Ich bin schon seit drei Stunden für das Ereignis angezogen und fühle mich in den schicken Sachen so unwohl, dass ich sie am liebsten gleich wieder ausziehen würde. Ich hoffe, Marianne nicht allzu sehr zu blamieren, aber mein Spiegelbild zeigt mir immer eine müde Frau in den mittleren Jahren, die deutlich älter wirkt als fünfunddreißig. Der hellbraune Hosenanzug spannt, er betont meine breite Taille und die Hüften. Der Stoff ist billig und juckt, aber ich werde mich nicht kratzen. Mein dünnes glattes Haar ist von grauen Strähnen durchzogen und liegt auf der Schulter auf. Ich trage die vernünftigen schwarzen Schuhe, die Marianne so hässlich findet – leider passen meine breiten Füße in nichts Eleganteres. Make-up benutze ich nie, damit komme ich mir albern vor. Als ob mich ein Hauch Farbe auf den Wangen oder schimmernde Lippen attraktiver machen würden! Marianne schämt sich für mich, weil ich dick und altmodisch wirke, aber wenigstens bin ich geduscht und auf den Beinen.
    Meine Versuche, Ches zu wecken, werden immer aggressiver. Ich packe ihn an der Schulter und schüttle ihn. »Ches, los jetzt«, dränge ich. »Heute ist die Wissenschaftsmesse in St. John’s. Du weißt doch, wie sehr sich Marianne darauf gefreut hat.« Ich halte die Luft an und hoffe, dass Ches aufsteht, ohne herumzustreiten.
    Er dreht sich weg und zieht sich das Laken über den Kopf. »Kann nicht«, lautet die gedämpfte Antwort.
    Ich beobachte seinen Rücken, warte auf Anzeichen von Bewegung, aber nichts. An seinem Atem erkenne ich, dass er wach ist.
    »Ches!« Sein Name wird zum Kreischen. Meine Wut sammelt sich in Schweißtropfen zwischen meinen Brüsten, ich balle die Fäuste so fest, dass sich die Fingernägel auf meinen Handflächen abzeichnen.
    »Geht heute nicht«, seufzt er. »Ich dachte, es geht, aber ich kann jetzt nicht aufstehen und durch die Gegend kacheln.«
    »Du kannst nicht aufstehen?«, wiederhole ich fassungslos. »Du schläfst, verdammt noch mal, seit drei Tagen! Du stinkst und bist dreckig, du widerst mich an. Also hoch mit dir!« Meine Stimme klingt schrill, und wahrscheinlich steht Marianne hinter der Tür und lauscht.
    »Den Preis kriegt eh eins von den chinesischen Kids«, brummt Ches. »Is’ doch immer so. Manchmal bist du wirklich dämlich, Lottie. Was glaubst denn du? Dass ein Kind vom Land, das ein Parfum gemixt hat, das Stipendium bekommt? Oder eins von den asiatischen Kindern aus der Stadt, das weiß, wie man den Scheißregenwald rettet? Ersparen wir Marianne doch die Enttäuschung.«
    Was soll ich dazu sagen? Wahrscheinlich hat er sogar recht, aber darum geht es nicht. Ich durchsuche seine Jeans, die auf dem Boden liegt, und ziehe das abgenutzte Lederportemonnaie aus der hinteren rechten Tasche. Ich finde nur zwölf Dollar. Verwirrt schüttle ich den Kopf. Ches’ Arbeitsunfähigkeitsrente wurde erst vor vier Tagen ausgezahlt, und in den letzten drei Tagen hat er im Bett gelegen.
    Ich schleudere ihm das Portemonnaie entgegen, aber es verfehlt sein Ziel, prallt am Bett ab und landet sanft auf dem grünen Teppich, neben einer verdrehten Socke und einer Streichholzschachtel. »Du bist das Hinterletzte«, sage ich mit unverhohlener Verachtung. Ches zieht sich das Laken über den Kopf, als würde er mir zustimmen.
    Ich könnte ihn anbrüllen, ihm eine Standpauke halten, ihm vorhalten, als Ernährer versagt zu haben, ein lausiger Ehemann, Vater und ein nutzloses menschliches Wesen zu sein, aber all das ist bereits gesagt. Es gab eine Zeit, in der wir uns täglich Grausamkeiten und Beleidigungen an den Kopf geworfen haben. Er pöbelte, ich sei zu dick, würde das Essen verbrennen und sei überhaupt zu ungeschickt. Im
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