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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman
Autoren: Aufbau
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oberste Stockwerk eines großen alten Hauses mit drei anderen Mädchen teilte. Tommy war nur ein einziges Mal dort gewesen, als seine Mutter mit ihm zu einem Arzt in der Harley Street nach London gefahren war. Diane kam fast jedes Wochenende nach Hause, und sobald sie auftauchte, war das Haus voller Sonnenschein und Freude. Sie hatte immer ein Geschenk für ihn dabei, irgendetwas Lustiges oder Außergewöhnliches und oft, jedenfalls nach Ansicht seiner Mutter, für einen achtjährigen Jungen völlig Unpassendes. Sie brachte die neuesten Schallplatten, nach denen jeder in London tanzte, oder den Soundtrack eines neuen Musicals, das sie gesehen hatte. Bei ihrem letzten Besuch war es
West Side Story
gewesen. Diane und er hatten die Platte wieder und wieder aufgelegt und so lange mitgesungen, bis sie jede Nummer auswendig konnten. Seither sang Tommy
I like to be an American
.
    Diane war lustiger als irgendjemand auf der ganzen Welt. Sie spielte Leuten Streiche, auch vollkommen fremden. So rief sie |21| an und tat so, als sei sie jemand anderer, und sie machte ungezogene Sachen, solche, die man als Erwachsene nicht mehr tat, wie zum Beispiel Salz und Zucker vertauschen oder einen Becher Wasser auf die Kante der Badezimmertür stellen, damit derjenige, der ins Bad ging, vollkommen nass wurde. Ihre Mutter bekam Wutanfälle (genau das wollte Diane erreichen), und ihr Vater senkte seine Zeitung, seufzte und sagte:
Diane, bitte. Soll das ein Vorbild für den Jungen sein? Können wir nicht versuchen, ein bisschen mehr Verantwortung zu zeigen?
Diane sagte dann:
Ja, Vater, entschuldige Vater,
doch hinter seinem Rücken zog sie eine Grimasse, imitierte ihn oder steckte ihre Daumen in die Ohren und streckte die Zunge raus und schielte. Tommy versuchte dann, sich das Lachen zu verkneifen, was ihm jedoch nie gelang.
    Diane war Schauspielerin. Sie war noch nicht berühmt, aber jeder war der Meinung, dass sie es bald sein würde. Da es eine ältere Schauspielerin namens Diana Bedford gab, benutzte sie den Mädchennamen ihrer Mutter und spielte unter dem Namen Diane Reed. Tommy war unwahrscheinlich stolz auf sie. Er besaß Fotos von ihr und Zeitungsartikel. Riesige Plakate von den Stücken, in denen sie mitgewirkt hatte, hingen an den Wänden seines Zimmers neben all den Westernpostern und Bildern.
    Sein Lieblingsfoto stammte aus einem Hochglanzmagazin. Diane trug ein schwarzes Satinabendkleid, große glitzernde Ohrringe und eine weiße Pelzstola um die Schultern. Sie stand vor dem Café Royal, einem berühmten Londoner Restaurant, in das alle Stars gingen; es war Nacht, und ihr Kopf war nach hinten geneigt, und sie lachte, als hätte gerade jemand einen Witz zum Besten gegeben. Die Schlagzeile lautete:
EIN AUFSTEIGENDER STERN,
und darunter:
Diane Reed – Das Gesicht der Sechziger
.
    Seine Mutter, die immer ihren Spott und Hohn ausgießen musste, bemerkte, dass so eine Aussage wohl ein wenig voreilig sei, immerhin schreibe man erst das Jahr 1959.
    |22| Tommy lag in der Badewanne und hatte wieder dieses sonderbare Gefühl in seinem Magen. Es war ein Knäuel, das größer und größer wurde, wie die Stapel merkwürdiger neuer Anziehsachen auf dem Bett im Gästezimmer. Zwei graue Flanellshorts, zwei graue Pullover, vier graue Oberhemden, sechs Paar graue Kniestrümpfe, vier Unterhosen und eine Weste, Sporthosen und Hemden (einmal weiß, einmal grün), ein Dutzend weißer Baumwolltaschentücher, eine grüngelbgestreifte Krawatte und der dunkelgrüne Blazer und die Kappe, beides versehen mit einem gelben Emblem – zwei gekreuzte Schwerter und ein Schild mit dem Leitspruch der Schule:
Semper Fortis
. Tommys Vater erklärte, es bedeute, man müsse immer tapfer sein. Es sei Latein, eine Sprache, die Tommy bald lernen werde, obwohl sie »tot« war und niemand sie mehr sprach.
    Auf jedes Kleidungsstück hatte seine Mutter ein Schildchen genäht, auf dem
BEDFORD, T.
stand. Tommy hatte seinen Namen so noch nie geschrieben gesehen. Genauso stand es auch auf dem großen schwarzen Koffer und der Holzkiste auf dem Boden neben dem Bett, die sich langsam füllten. Er fand es seltsam, an einem Ort leben zu müssen, an dem niemand daran interessiert war, wie man mit Vornamen hieß. Aber in nur zwei Tagen würde er dort sein.
    Warum ihn seine Eltern auf ein Internat schickten, konnte er nicht begreifen. Als sie ihm die Neuigkeit mitgeteilt hatten, dachte Tommy erst, er habe etwas falsch gemacht und dass sie ihn nicht länger bei sich haben wollten. Diane
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