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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman
Autoren: Aufbau
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Moment lang dachte Tommy, dass sein Vater ihm einen Kuss geben würde. Das hatte er schon Jahre nicht mehr getan. Aber er suchte nur den Lichtschalter. Sein Tweedjackett roch nach Rauch und er nach Whiskey, den er im Golfclub getrunken hatte.
    »Haben wir die Kielräume geleert?«
    »Ja.«
    »Mal sehen, ob wir eine trockene Nacht haben werden, hm?«
    »Ich werd’s versuchen.«
    »So ist es recht. Nacht, alter Bursche.«
    »Nacht.«
    Tommy lag auf dem Rücken, starrte auf den schmalen Lichtstreifen an der Decke, während er sein nächtliches Ritual praktizierte. Einhundert Mal flüsterte er:
Ich werde nicht ins Bett machen, ich werde nicht ins Bett machen, ich werde nicht ins Bett …
    Seine Eltern sahen im Wohnzimmer die Nachrichten. Ein Mann sagte, Präsident Eisenhower kehre von Schottland nach London zurück, wo er die Königin besuche. Sein Name war Dwight, aber alle nannten ihn Ike. Er schien ein netter alter Mann zu sein. Tommy hatte ein Foto von ihm, auf dem er John Wayne die Hand schüttelte.
    Seine Gedanken wanderten wieder zu Flint und mit welcher Raffinesse der die Hufspuren am Fluss gefunden hatte. Er fragte sich, was dem Mädchen zugestoßen wäre, hätte er sie nicht vor den Indianern gerettet. Bestimmt Schlimmeres als ein Internat. Noch zwei Tage zu Hause, dann war es so weit. Im Frühjahr, als seine Mutter und sein Vater mit ihm dorthin gefahren waren, hatte der Ort freundlich ausgesehen. Ausgedehnte hügelige Wiesen und viele Bäume. Fußballfelder. Eine Turnhalle mit Seilen zum Klettern. Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht.
    Tommy musste eingeschlafen sein, denn bevor er sich versah, |31| war das Haus still und das Licht am Treppenabsatz ausgeschaltet. Jemand streichelte seine Stirn.
    »Diane?«
    »Hallo, mein Liebling«, flüsterte sie.
    Sie kniete neben seinem Bett. Er hatte den Eindruck, dass sie schon eine Weile da war. Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange. Sie hatte noch den Regenmantel an. Ihr Haar duftete nach Blumen.
    »Bist du eben erst angekommen?«
    »Ja.«
    Sie streichelte weiter seine Stirn. Ihre Hand fühlte sich weich und kühl an. In der Dunkelheit konnte er ihr Gesicht nicht deutlich sehen, aber ihr Lächeln wirkte traurig, und irgendwie wusste er, dass sie geweint hatte.
    »Was ist denn?«
    Sie legte einen Finger an ihre Lippen.
    »Schsch. Du weckst sie auf. Nichts ist los. Ich bin nur glücklich, dich zu sehen.«
    Jetzt füllten sich seine Augen mit Tränen.
    »Diane?«
    »Was, mein Liebling? Was ist?«
    »Ich will nicht in das Internat.«
    Er fing an zu weinen, und sie fing auch wieder an. Sie nahm ihn in die Arme, und er vergrub sein Gesicht an ihrem warmen weichen Hals. Sie klammerten sich aneinander und weinten.

|32| ZWEI
    Die Ashlawn Preparatory School für Jungen war ein beeindruckendes Herrenhaus in Backsteingotik mit Befestigungsmauern, verzierten Türmen und mehreren vermeintlichen Geistern. Das Gebäude stand auf einem Hügel in einer etwa acht Hektar großen Parklandschaft mit Eichen und Zedern, umgeben von einer drei Meter hohen Mauer mit Stacheldraht. Das Herrenhaus war von einem viktorianischen Industriellen erbaut worden. Er war aus den Slums in Birmingham aufgestiegen und hatte ein Vermögen in den Kolonien gemacht, ein Vermögen, das er jedoch sofort wieder verloren hatte. Das Gebäude, ein Monument für seinen gehobenen Gesellschaftsstatus, wurde für die nächsten zwanzig Jahre als Heim für geistig Behinderte genutzt.
    Im Ersten Weltkrieg wurde die Klientel um einhundertundzwanzig Soldaten erweitert, die an einer Kriegsneurose litten. Erst als der letzte entlassen oder gestorben war, wurden die verfallenen Flure und Schlafräume dürftig zu einer Schule umfunktioniert. Es gab elegantere, teurere Internate im Lande, auf die man die Söhne der etablierten Ober- und Mittelschicht schickte. Ashlawn war für die, die sich in die eine oder andere Richtung dazwischen bewegten und deren soziale Ansprüche oder Ambitionen ihre Mittel überstiegen.
    Im Interesse der Schulgeld zahlenden Eltern wurde das imposante schmiedeeiserne Tor, das mit dem Schulwappen und dem Motto
Semper Fortis
geschmückt war, regelmäßig gestrichen und die sich eine halbe Meile schlängelnde Auffahrt akribisch von Unkraut befreit. In den dunkleren, weiter abgelegenen Teilen des Herrenhauses, wohin sich Eltern nicht verirrten, hatte |33| sich in den letzten fünfzig Jahren wenig verändert. Die abblätternde Farbe in den institutionstypischen Tönen Braun und Blassgrün
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