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Die wilde Gärtnerin - Roman

Die wilde Gärtnerin - Roman

Titel: Die wilde Gärtnerin - Roman
Autoren: Milena-Verlag <Wien>
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2010
    Sie hatte sich nicht verabschiedet. Sie hatte Leo wie jeden Morgen nach dem Frühstück geküsst, war ihm durch die Haare gefahren, hatte »Bis später« gesagt und erwartet, ihn wie vereinbart abends in der Pizzeria an der Ecke wiederzusehen. Das war kein Abschied. Auch der Anruf von Leos Mutter nicht. Eine Frauenstimme gellte aus Helens Handy, die vor verrotzten Schleimhäuten und ruckartigem Luftholen nur unverständliche Worte formulieren konnte.
    »Helen … Leo … er ist … Helen.«
    Wer sollte das verstehen? Einzig, dass es kein Witz, das Gestotter nicht komisch gemeint war, das verstand Helen auf Anhieb. »Isabel, was ist? Bitte beruhige dich. Was ist mit Leo?«, fragte Helen. Sie hörte, wie Isabel jemandem ihr Handy überreichte. Dann Pauls Stimme. Auch die belegt, dünn, jederzeit am Versiegen.
    »Helen, er liegt auf der Intensiv im AKH, er hatte einen Unfall.«
    Damit begann die Tunnelfahrt.
    Leo lag vor ihr. Mit vielen Schläuchen. Rund um ihn Geräte. Alles in Orange. Die Wände, das Linoleum. Pflegepersonal und Ärztin in Grün. Helen auch. Grüne Plastiksäcke über den Schuhen, grüne Hosen, grüner Mantel, grüner Mundschutz, grüne Plastikhaube. Leos Eltern neben ihr sahen genauso aus. Sie stand vor Leos Dekubitus-Bett und wusste nicht, wie sie hierhergeraten war. Wie Leo an diesen Ort gekommen war, hatte ihr Paul auf dem Weg zwischen Portier und Intensivstation erzählt.
    Ein Ball war zwischen parkenden Autos auf die Straße gerollt. Ein Ball, dem ein Kind nachlief. Auf die Kaiserstraße. Leo, der mit seinem Fahrrad in flottem Tempo unterwegs war, konnte reagieren. Er konnte ausweichen. Aber da war keine Zeit, auf die Schienen zu achten, in die seine Reifen gekommen waren. Da war keine Zeit, nach links über die Schulter zu schauen und das Auto zu sehen, das ihn gerade überholte. Nachdem der Autolenker Leos Körper auf der Karosserie aufprallen gehört hatte, bremste er. Es war ein langer Bremsweg. Aber der von der Straßenbahn war noch länger. Sie schleifte Leo und sein Fahrrad mit. Einige Meter. Das hatte ihr Paul erzählt, der es von der Polizei gehört hatte, die es von den Eltern des Kindes gehört hatten. Es war wie stille Post, nur mit Unfallprotokollen. Aber auch hier konnten Details verloren gehen, uminterpretiert oder übersehen werden. Das Resultat war genauso verstümmelt. Es wurde in ein Bett gelegt. Doch jene, welche Leo am Beginn der Geschichte gekannt hatten, erkannten ihn jetzt nicht wieder. Der Leo zwischen Schläuchen, zwischen Geräuschen, die nicht er ausstieß, sondern die Geräte, schaute nicht aus wie jener Leo, durch dessen Haare Helen an diesem Morgen gefahren war und dessen Lippen sie geküsst hatte. Der Leo vor ihr war in Mullverbände gewickelt, durch die stellenweise Wunden nässten. Das, was zwischen Verband und Patientenkleid zu sehen war, zeigte sich teils rot, teils braun verkrustet und war nicht immer Haut. »Wir haben ihn in künstlichen Tiefschlaf versetzt«, sagte die Ärztin unter dem grünen Mundschutz hervor. Die grüne Isabel Triletzky neben Helen schluchzte. Der grüne Paul legte seinen Arm um Isabel. Helen stand allein vor dem Dekubitus-Bett, das eine furchteinflößende, unüberwindbare Barriere zwischen ihr und Leo errichtete. Es wirkte so mächtig und abweisend, während Leo darin so klein und fragil war.
    Helens Kopf vor Leos Bett fühlte sich an wie eine hohle Glaskugel mit nichts als Gedankenleere darin. Seit ihrer Kindheit hatte sie diesen Zustand bei Meditationen zu erreichen versucht. Hätte sie diese seltsame grüne Duschhaube abgenommen, die Medizinerin neben ihr hätte Helens durchsichtiges Gehirn bestaunen können. Aber Helen nahm ihre Haube nicht ab, sie schaute nur regungslos auf das, was einmal Leo war. Dann wurde ein Paravent vor das Bett gestellt. Nicht grün, nicht orange. Einfaches Hellgrau, gespannt auf Aluminiumträger. Sie mussten gehen, das Zimmer räumen. Helen wurde in das Büro der Ärztin geschoben, ein Sessel für sie geholt.
    »Die Maschinen«, sagte die Ärztin, die sich den Mundschutz abgenommen hatte, »lassen wir noch laufen, trotz Herrn Triletzkys Patientenverfügung.«
    Leo hatte Vorkehrungen getroffen. Helen wusste davon. Keine lebenserhaltenden Maßnahmen. Organe spenden. Den
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