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Die wilde Gärtnerin - Roman

Die wilde Gärtnerin - Roman

Titel: Die wilde Gärtnerin - Roman
Autoren: Milena-Verlag <Wien>
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Körper der Medizin übergeben. Helen war froh, diese Entscheidung nicht fällen zu müssen. Obwohl sie nicht befragt worden wäre. Rein rechtlich war sie nichts zu Leo. Nur eine Lebensgefährtin, eine Mitbewohnerin, eine Freundin. Vielleicht hätten Isabel und Paul ihre Meinung eingeholt. Vielleicht aber auch nicht. Schließlich ging es hier nicht um das Ziel eines Wochenendausflugs, sondern darum, das Leben ihres Sohnes zu beenden. Da hätten sie womöglich doch nicht diejenige befragt, die seit zwanzig Jahren mit ihm lebte.
    »Ich drücke es in aller Deutlichkeit aus«, sagte die Intensivmedizinerin, »es besteht geringe Hoffnung. Die Schwellungen im Gehirn sind massiv. Falls der Schädeldruck innerhalb der nächsten Stunden abklingt, können wir weitersehen.«
    »Wir müssen nicht mehr schauen«, blinkte plötzlich wieder ein Gedanke in Helens Glaskopf auf. »Wir werden nichts sehen. Er ist weg. Er hat uns verlassen. Mich alleingelassen.«
Allein
. Das blieb. Als einziger Gedanke. Und Gefühl.
    Das Haus war groß. Die Wohnung riesig. 300 Quadratmeter für sich allein. Helen kam es so vor, als wäre sie zu allem Übel auch noch geschrumpft. Als hätte Leo ein Stück von ihr mit sich genommen – es mussten einige Zentimeter sein. Deshalb kamen ihr die Räume so viel größer vor. Das Doppelbett war am meisten gewachsen. Früher stießen Leo und sie nachts oft zusammen, weil sie eng aneinanderlagen. Aber jetzt hatte Helen unzumutbar viel Platz. Selbst wenn sie sich in die Mitte des Betts legte und ihre Gliedmaßen von sich streckte, konnte sie den Bettrahmen nicht berühren. Und Leo auch nicht.
    Helen stand am Küchenfenster, schaute auf ihren Garten, die Wintersonne schien durch die Glasscheibe auf ihre Stirn. Alles lag hinter ihr. Alle Behördenwege waren abgehakt. Alle Pflichtübungen absolviert. Spital, Begräbnis, Formalitäten erledigt. Sie hatte die Bewohner ihres Hauses verständigt. Hatte mit Menschen gesprochen, mit denen sie nicht sprechen wollte. Hatte Beileidsbekundungen gehört und nicht gewusst, was sie darauf sagen sollte. Aber irgendwann war das Ende des Tunnels erreicht. Helen stand in ihrer viel zu großen Wohnung am Küchenfenster und hörte das Leben ihrer Mieter durch die Wände. Da ein Poltern. Dort das Schließen eines Fensters. Lachen. Der eingeschränkte Tunnelblick war weg. Sie sah, wie die kahlen Obstbäume ihre Äste schüttelten. Sah braunes Gras, einige rote Hagebutten am Strauch, abgeerntete Gemüsebeete, Vögel im Holunderbusch. »Das ist das Leben«, dachte Helen. Das Leben, in dem sie mittendrin saß. Das oben, unten, neben ihr stattfand. Sich abspielte. Das nie zur Ruhe kam, nie stoppte, immer vorwärts drängte, egal wohin, nur weiter, schneller, mehr. Und Helen spürte in jeder Faszie nicht die geringste Lust, mitzuspielen. Dieses ganze Leben konnte ihr gestohlen bleiben. Die Pflanzen, die Vögel, das Lachen. Leben. Absolut von keinem Interesse für sie. Nichts als überflüssiges Unterfangen. Eine Reihe sinnentleerter Handlungsabläufe. Eine Kette unnützer Entscheidungen. Leben. Nicht mit ihr. Sie hatte genug. Sollte jeder tun, was er tun wollte, gleich was, völlig egal. Sollten sich alle eine Wichtigkeit einreden, die es nicht gab. Es reichte. Leben. Mit ihr sicher nicht mehr. Leben war doch nur ein einziges Wegsterben. Ständig starben alle weg. Egal, was man tat. Es war unaufhaltsam. Am Schluss waren alle tot. Ihr war das zu blöd. Sie wollte nicht mehr. Im Bett sterben die Leute, dachte sie und genau zu diesem Zweck legte sie sich nieder.
    Helen döste vor sich hin. Ihr Mund war trocken. Ihr Körper fühlte sich wie altes Reisig an. Dürr, knochig, porös. Hörte sie da ein Geräusch an der Tür? Wollte ein Mieter was von ihr? Kämen die Triletzkys vorbei? Sie hätte ihnen den Ersatzschlüssel abnehmen sollen. Nein, die Triletzkys kämen sicher nicht, die hatten genug mit ihrer eigenen Trauer zu tun. Helen versank in Schlaf. Kurz. Die Eingangstür fiel laut ins Schloss. Jemand war in die Wohnung gekommen. Helens betäubte Wahrnehmung beobachtete die Reaktionslosigkeit ihres Körpers. Es wurden keine Stresshormone ausgeschüttet. Ihr Puls erhöhte sich nicht. Ihr Herz trommelte unbarmherzig in konstanter Frequenz weiter, als triebe es eine Sklavengaleere an. Keine Schweißproduktion. Selbst ihre verhasste Atmung beschleunigte sich nicht. Die Lunge zog sich stoisch auf und sackte wieder zusammen. Helens Augen blieben geschlossen. Aber ihre Ohren hörten. Jemand kam in ihr
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