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Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann

Titel: Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Autoren: Arnulf: Zitelmann
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übersetzen kann. Wörtlich bedeutet Tao »der
     Weg«, und so wird es meist auch verstanden. Laotse hat den Begriff nicht erfunden. Tao ist ein chinesisches Alltagswort und
     bedeutet in Zusammensetzungen einfach »sagen«, etwas verlautbaren. So begegnet es uns auch in der ersten Zeile des Buches:
     »Das Tao, das getaot werden kann, ist nicht das beständige Tao.« Es kann nicht in Worte gefasst werden.
    Laotses Büchlein trägt den Titel: »Das Buch vom Tao und Te.« Auch das Wort Te ist kaum in eine westliche Sprache übertragbar.
     Manchmal wird es mit dem Begriff »Tugend« wiedergegeben. Aber das klingt zu sehr nach erhobenem Zeigefinger. »Moral« bietet
     sich eher an, und zwar in dem Sinn, wie Sportreporter das Wort verwenden: Die Moral der Mannschaft ist gut, ungebrochen. Hier
     meint Moral etwas Ähnliches wie Laotses Begriff vom Te, der damit in einem weiteren Sinn die Idee von einem spontanen, natürlichen
     Verhalten verbindet. Te ist das zur persönlichen Energie gewordene Tao. »Tao Te King« heißt demnach streng genommen: »der
     rechte Weg und das rechte Tun«. Etwas freier übersetzt können wir sagen: Tao in Theorie und Praxis.
    Was bedeutet das genau? Tao ist die Ordnungsmacht des Universums, des Himmels und der Erde, die universelle Regel, die nach
     dem Prinzip des Ausgleichs funktioniert: Tao sorgt dafür, dass alle Ereignisse und Begebenheiten der Welt sich immer wieder
     ausgleichen und die Waage halten. China kennt viele Gottheiten, die man anbetet und um Hilfe bittet. Zur Tao-Regel würde jedoch
     kein Chinese beten. Kein Gott steuert das Tao, es steuert sich selbst.
    |19| Am Anfang, als Himmel und Erde sich ins Dasein brachten, gab es ein ungestörtes Gleichgewicht zwischen den Dingen. Es herrschte
     grenzenlose Harmonie: »So hatten in den Tagen, da die Natur noch vollkommen war, die Menschen ruhige Bewegungen und ein heiteres
     Aussehen. Damals führten keine Pfade über die Berge, keine Boote und Brücken über das Wasser. Alle Dinge wurden, jedes in
     seiner naturgegebenen Gegend, erzeugt, Vögel und Tiere mehrten sich, Bäume und Sträucher gediehen. So kam es, dass Vögel und
     Säugetiere sich an der Hand führen ließen und man den Baum besteigen und in das Elsternnest gucken konnte. Denn in den Tagen
     der vollkommenen Natur lebten die Menschen mit Vögeln und Tieren beisammen und bildeten mit allen Dingen eine große Familie.
     Konnten sie da etwa einen Unterschied zwischen Adel und Volk wissen? Alle waren in gleicher Weise ohne berechnendes Wesen
     und darum verließ sie ihre natürliche Spontaneität [Te] nicht. Und weil alle in gleicher Weise frei von Begierden waren, befanden
     sie sich im Zustand natürlicher Unversehrtheit«, so erzählt Tschuangtse (oder Zhuangzi, »Meister Zhuang«), ein berühmter Schüler
     Laotses, der zwischen 369 und 286 vor unserer Zeit lebte und zeitweise als königlicher Beamter diente. Als der König ihn zum
     Minister ernennen wollte, lehnte er ab. Tschuangtse zog es vor, ein unabhängiges Gelehrtendasein zu führen. Aus seinen Schriften
     kennen wir ihn als einen Mann von sprudelnder, heiterer Gedankenfülle, die er sich bis an sein Sterbelager bewahrte.
    Dahin gilt es wieder zurückzukommen: zur »natürlichen Unversehrtheit«. Aber wie? Mit Gewalt geht gar nichts, soviel ist sicher.
     Blinder Aktionismus bringt auch nichts. Augen zu und durch? Nein, nimm dich zurück, rät Laotse. Geh mit Gefühl die Dinge an,
     mit Fingerspitzengefühl, beginne nichts, solange du nicht mit dir im Gleichgewicht bist. Das ist Handeln nach Tao-Art. Laotse
     hatte dafür ein besonderes Wort: Wu-wei.
    Vom Wu-wei handelt eine Geschichte, die chinesische Kinder in ihren Schulbüchern lesen. Einem Bauern ging das Wachstum seiner
     Reissetzlinge nicht schnell genug. Er zupfte sie alle Stückchen für Stückchen in die Höhe. Erschöpft von seiner Arbeit kam
     er nach Hause. »Ich habe mich sehr geplagt«, erklärte er seiner Familie. »Den ganzen Tag habe ich unserem Reis beim Wachsen
     geholfen!« Da lief sein Sohn auf das Feld und fand alle Setzlinge verwelkt. Die Moral von der Geschichte? Wegen der Ungeduld
     verloren die Menschen das Paradies, schreibt Franz Kafka, und wegen der Ungeduld finden sie nicht wieder zurück.
    Der dumme Bauer hatte vom Wu-wei noch nie etwas gehört. Zurückhaltung |20| und Geduld kannte er nicht. Wörtlich bedeutet Wu-wei das Nichtvorhandensein von Tun, ein Nichttun. Wenn wir uns zurücknehmen,
     nicht ständig und überall
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