Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)

auch das Biotop um die Pickel herum: Haut, Haare, Fleisch.

    Aber zu spät: Meine Frau und ich standen an einem ewig langen Regal mit ewig vielen Fotoapparaten in einem der voll billigen Technikmärkte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sich ein Verkäufer zu uns gesellt, der uns tatsächlich beraten wollte. Er musste neu hier sein. Oder ein Leiharbeiter. Oder krank. Auf jeden Fall sagte er nicht: »Moment, es kommt gleich jemand!« Nein, er stand geduldig da und führte meiner Frau eine Kamera nach der anderen vor. Und sie knipste.
    Und knipste.
    Und knipste.
    Aber
was
knipste sie? Mich natürlich. Ansonsten gab es hier nicht so viel, also knipste sie, was sie kannte: Ihren wehrlosen Mann.
    »Bitte, knips doch mal was anderes!«
    »Hier gibt’s doch nichts.«
    »Doch«, sagte ich, »da vorn die Kids, die gerade die iPads klauen. Sehr schönes Motiv.«
    »Nun stell dich nicht so an, John, und guck nicht immer weg.«
    Schließlich beugte ich mich dem Wunsch meiner Frau. Ich hielt still und versuchte an etwas anderes zu denken.
    An etwas Schönes.
    An Mord.
    Oder zumindest an Scheidung.
    Dann mischte sich auch noch der seltsame Verkäufer wieder ein.
    »Wenn Sie jetzt auf diesen Knopf drücken, dann schaltet die Kamera um auf ›Beauty Shot‹. Probieren Sie es mal!«
    Meine Frau machte es. Die beiden Foto-Verschwörer guckten sich den »Beauty Shot« an und lachten. Was bitte war so lustig? Ich schaute mich um, ich sah nichts, was lustig hätte sein können. Aber meine Frau zeigte es mir. Sie zeigte mir den »Beauty Shot«: Zwölf Megapixel dicklicher, blasser, rothaariger Gesichtsklumpen.
    »Ich seh ja so was von scheiße aus«, sagte ich, und der Arsch – Verzeihung, der
Verkäufer
– entgegnete: »Ja, schon … aber das liegt nur an dem Licht hier.«

    Wie gesagt, in früheren Zeiten, in Zeiten des Einzelkinns konnte ich mit meinen Porträtfotos gut leben. Aber jetzt hatte ich nicht nur ein Doppelkinn, mein Doublekinn hatte auch ein Doublekinn! Und das hat wiederum eines. Ich sehe ein bisschen aus wie die Wildecker Herzbuben. Und zwar wie beide zusammen! In Deutschland sagt man mir das dann auch noch mitten ins doppeltbekinnte Gesicht.
    »John, du hast aber ganz schön zugelegt.«
    »Echt? Aber ich hab doch gar nicht zugenommen.«
    »Im Gesicht aber schon, oder?«
    Das ist dann so ein Moment, in dem ich mich nach Amerika zurücksehne. Egal, wie dick du bist. Egal, wie viele Doublekinne sich vor deinen Hals schieben: Du kriegst immer Komplimente.
    »John, du siehst gut aus! Das Essen in Deutschland bekommt dir aber gut! Did you lose weight?«
    »Yessssss! 20 gramms!«
    »Of course, I seeeeee it!«

    Und dann gibt es noch die Menschen, die als Dicke richtig gut aussehen. Die man sich auch nur dick vorstellen kann. Sigmar Gabriel zum Beispiel. Der sieht dick sehr gut aus! Er sieht immer so aus, als sei er gerade vom Büfett gekommen oder auf dem Weg dorthin. Wenn ich ihn im Fernsehen sehe, warte ich immer darauf, dass ihm ein Chicken Wing aus dem Mundwinkel fällt.
    »’tschuldigung, hatte wohl was zwischen den Zähnen.«
    Sigmar ist ein » AYCEM «, ein » ALL YOU CAN EAT MAN «. Okay, bringen wir es auf den Punkt: Sigmar sieht aus wie ein Ami! Das macht ihn mir so sympathisch.
    Genauso wie Reiner Calmund. Reiner Calmund ist, wenn schon nicht der Bestaussehende unter Deutschlands Dicken, so doch zumindest der Schnellste: Sorry, Sigmar, but Reiner kicks your ass! Your big fat ass! In der Fastfood-Sprache bist du, Sigmar, fett, aber Reiner ist der Whopper. Ach was, der Double Whopper.
    Da stell ich mir die Frage: Wie macht Reiner Calmund das bloß? Er hat mehr Kinne im unteren Teil des Gesichts als ich, aber im Gegensatz zu mir passen sie irgendwie zu seinem Bauch, zu seiner monumentalen Erscheinung. Bauch und Kinn und alles andere sind bei Reiner Calmund eine Gesamtkomposition; sie verleihen ihm etwas ganzheitlich Fettes. Er sieht aus wie ein Ball, dem Arme und Beine gewachsen sind.
    Mir verleiht mein Kinn in Kombination mit meinem Bauch nichts, aber auch gar nichts. Außer zwei feixende Menschen in einer Fotoabteilung beim Anblick eines »Beauty Shots« meines Gesichts.
    Vielleicht sollte ich mich liften lassen? Dann Fett absaugen. Obwohl, umgekehrt ist wahrscheinlich sinnvoller. Dann sehe ich nicht nur schlanker, sondern auch jünger aus. In der Heimat meiner Familie ist absaugen und liften lassen kein Privileg von Wohlhabenden. In den USA wirst du schlanker und jünger gemacht, während