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Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)

Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)

Titel: Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)
Autoren: John Doyle
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nicht vertiefen …
    Ich ließ meine ehemals liebsten Angehörigen mit ihren Sprachproblemen allein und ging ins Badezimmer. Von vorne betrachtet war alles halb so schlimm. Der Optimist in mir – der Ami – sagte: »Sei froh, John, wenigstens hast du keine Hängebrüste!« Das ist nett gemeint vom Ami, aber ich lebte in der deutschen Realität, und da waren »Möpse« entweder Hunde oder weibliche Weichteile.
    Ich verbuchte dieses neue Phänomen an meinem verwelkenden Körper unter dem Stichwort »Fleischwanderbewegung«. Es war nicht das erste Mal, dass sich das Fleisch an meinem Skelett einen neuen Platz suchte. Zum Beispiel waren meine Muskeln im Laufe der Jahre von den Schultern in den Bereich der Hüften gewandert. Oder meine Gesichtsmuskeln: Die haben ein neues Terrain unterhalb der Mundpartie gefunden und dort ein respektables Doppelkinn gebildet.
    Natürlich bin ich keiner, der sich einfach seinem Körper geschlagen gibt, also suchte ich meinen Hausarzt Dr. Schäfer auf. Einen meiner 15 Hausärzte, genauer, der mit dem 500 - PS -Turbo. Auf jeden Fall schilderte ich ihm, was bei mir über Nacht gewachsen war,
und
ich zeigte ihm, was da gewachsen war.
    »Wow!«, sagte er mitfühlend, »so etwas würde ich gerne an einer Frau sehen.« Das war nicht ganz das, was ich hören wollte.
    »Keine Angst, Herr Doyle! Das ist normal für Männer in Ihrem Alter.«
    »In meinem Alter? Ich bin doch erst Ende 40 !«
    »Oh, ich hatte Sie ein bisschen älter geschätzt …«
    Danke. Okay, ich habe Dr. Schäfer daraufhin vorübergehend von meiner Ärzteliste gestrichen.

    Ich war nicht immer so. Also, alt mit Brüsten. Früher war ich jung und knackig. Okay, sagen wir mal: Ich war jung. Knackig auszusehen war schwierig mit roten Haaren und Pickeln zwischen Stirn und Hals. Da rutscht man nicht so einfach in die Kategorie »knackig«. Tatsächlich gab es nicht allzu viele Mädels in meiner Schule, die sagten: »Oh, der mit den roten Haaren und den Pickeln im Gesicht, der ist aber süß!« Wenn ich alle Mädchen zusammenzähle, die mich »süß« fanden, komme ich so ungefähr auf – keine.
    Aber »jung« hab ich hingekriegt. Mit zehn war ich jung, mit 20 war ich auch noch jung. Ein bisschen jung sogar mit 30 . Ach was, eigentlich fühlte ich mich bis vor kurzem noch jung. Ich trage Jeans, T-Shirt, Baseballkappe und Turnschuhe.
    Jung. Männlich. Keine Titten.

    Aber jetzt habe ich Titten, und deshalb meide ich Spiegel. Beziehungsweise, ich benutze nur noch den Rasierspiegel. Wenn ich dort irgendetwas an mir entdecke, irgendwelche neuen Kinne zum Beispiel, dann weiß ich: »John, das ist nicht echt. Der Spiegel vergrößert nur. Mach dir keinen Kopp.«
    Meine amerikanischen Freunde, die ähnlich aussehen wie ich inklusive Man-Boobs und Grizzly-Bauch kurz vor dem Winterschlaf – sagen: »Don’t look in the mirror, John! Just don’t look in the fucking mirror.«
    Das ist ein guter Rat, aber leider hilft er nicht immer. Ich erschrecke mich nämlich auch, wenn ich mich zufällig in einer Schaufensterscheibe spiegele. Erst sehe ich die Magermodel-Puppen mit den schicken Klamotten. Dann sehe ich einen großen, dicken Menschen: »Boah ist der fett, und Titten hat der auch noch!«
    Ich hab es schon mit Ziegelsteinen versucht. Das funktioniert. Der Erfolg ist jedoch nur von kurzer Dauer. Spätestens an der nächsten Scheibe erwischt es mich wieder:
    Das Bildnis des Dorian Doyle.

Fototerror
    Ein untrügliches Zeichen für den fortschreitenden körperlichen Verfall sind Fotos. Nicht dass ich früher auf Fotos besonders gut ausgesehen habe (okay, ein bisschen schon wie Brad oder George oder wenigstens wie Vladimir), aber man konnte sich die Bilder zumindest anschauen, ohne gleich daran zu denken, dass man ja noch ein Testament aufzusetzen hat.
    Heute geht das nicht mehr, heute ist die Kamera mein größter Feind. Ich meide sie. Viel schlimmer noch: Ich hasse sie. Besonders seit dem Digitalzeitalter. Jeder Depp kann tausendmal auf den Auslöser drücken und tausend dämliche Fotos machen.
    »Kost’ ja nix!«
    Doch, das kostet was: Meine psychische Gesundheit!

    Wenn ich eine Kamera sehe, drehe ich mich in der Regel einfach weg. Oder ich schrumpfe von 190 auf 150 Zentimeter, ziehe meine Kappe tiefer ins Gesicht, drücke meine diversen Kinne auf die Brust, ziehe den (kaum vorhandenen) riesigen Bauch ein und wünsche mir, ich sei gerade jetzt nicht da. Nicht vor dieser Linse, die mit Hilfe von Millionen von Pixeln meine Pickel einfängt und
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