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Die Weiterbildungsluege

Titel: Die Weiterbildungsluege
Autoren: Richard Gris
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halb geschlossenen Lidern
     nach oben. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. »Was rätst du mir?«, fragte er ebenso zaghaft wie eindringlich. Die entrückte
     Priesterin drehte sich zu ihm und sah ihn lange aus glasigen Augen an und seufzte: »Potenzialos – du erwartest Wunder.« Nach
     einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Weißt du, warum Sonnenblumen so schöne große gelbe Blüten ausbilden?« Potenzialos wurde
     unwillig. »Sprich bitte nicht in Rätseln mit mir – auch wenn du ein Orakel bist.« – »Das ist ganz einfach. Weil alles schon
     im Kern angelegt ist. Sonnenblumen können niemals Rosen werden. Du kannst als Gärtner nur dafür Sorge tragen, dass es eine
     schöne, große und prächtige Sonnenblume wird.« Potenzialos rang um Fassung. Da saß dieses zierliche kleine Persönchen vor
     ihm auf diesem Dreibein und faselte von Blumen. »Orakel – sprich Klartext«, presste er mühsam beherrscht hervor. Und anscheinend
     hatte das Orakel einen guten Tag. »Potenzialos, das ist doch ganz einfach. Du darfst nur die Menschen weiterbilden, die das
     nötige Potenzial schon in sich tragen und aufgrund ihrer persönlichen Motive den nötigen Biss und die Beharrlichkeit an den
     Tag legen, Inhalte, die sie in Weiterbildungsmaßnahmen gelernt haben, anzuwenden und zu praktizieren. Bei wem diese Basis
     gegeben ist, der wird an Weiterbildung wachsen, sich entwickeln und riesengroße Sprünge machen, die er ohne die Teilnahme
     nicht getan hätte. Natürlich braucht es genügend Anwendungsmöglichkeiten für das Gelernte und ein förderliches Umfeld, damit
     die Umsetzung unterstützt wird.«
    Potenzialos entgegnete unzufrieden: »Orakel, das ist doch nichts Neues. Das Problem ist, dass die Verantwortlichen in den
     Firmen nicht Nein sagen. Sie schulen zehn Leute, obwohl nur bei einem die nötigen Voraussetzungen erfüllt sind. Gerade erst
     habe |232| ich von einem Geschäftsführer gehört, der ein bisschen wie Monty Burns aus der Serie
Die Simpsons
aussieht. Immer wieder hat er Seminare und Coachings bekommen, um seine persönlichkeitsbedingten Denk- und Verhaltensmuster
     zu überwinden. Alles umsonst. Jetzt hat es ihn deshalb sogar gesundheitlich böse erwischt. 41 Tage Krankenhausaufenthalt.
     Zwölf Kilogramm Gewichtsverlust. Es hat ihn so sehr niedergerissen, dass er die Geschäftsführung abgegeben hat.«
    Ungerührt sprach das Orakel weiter: »Potenzialos, Firmen nutzen Auswahlverfahren wie Interviews oder Assessment-Center. Was
     spricht dagegen, auch Bewerbungsverfahren für Weiterbildungen zu installieren? Ich habe von einem Trainer gehört, der in einem
     Unternehmen den Spieß umgedreht hat. Die Mitarbeiter mussten sich im Rahmen eines Vorstellungsgesprächs für die Teilnahme
     an einer Weiterbildung bei ihm und der zuständigen Führungskraft bewerben. Es wurden nur die genommen, die das Kommitee überzeugten.
     Das hat gleich zwei Effekte. Man trainiert die Leute, bei denen eine hohe Chance besteht. Außerdem ist es für die Teilnehmer
     plötzlich wertvoll, Teil einer Seminargruppe zu sein, und nicht mehr lästige Pflicht. Die sozialpsychologische Forschung hat
     diesen Effekt von Aufnahmeriten sogar nachgewiesen.«
    Potenzialos ließ nicht locker: »Orakel, das ist ja alles schön und gut. Geht aber nicht immer. Ich habe doch viel öfter die
     Situation in den Firmen, dass ich Mitarbeiter im Unternehmenssinne weiterentwickeln muss, obwohl diese selbst keine Lust dazu
     haben. Ich kann es doch nicht einfach sein lassen.« – »Natürlich nicht. Aber es liegt in der menschlichen Natur, dass der
     eine oder andere zu seinem Glück gezwungen werden muss, um in die richtige Bahn zu kommen. Das ist wie bei einer Schnecke
     auf der Straße, die einen Schubs braucht, um nicht plattgefahren zu werden. Die Schnecke findet das natürlich bedrohlich –
     und merkt vielleicht gar nicht, dass sie um Haaresbreite einem Ende als Ragout entkommen ist.« – »Alles schöne Worte«, meckerte
     Potenzialos. »Jetzt rück’ doch endlich |233| mal mit der Sprache raus, was man konkret tun sollte.« Im bildhübschen Gesicht des Orakels spiegelte sich kurz ein Schatten
     der Entrüstung. Doch dann fuhr die Priesterin mit sanften Worten fort: »Der beste Ansatz ist Training-on-the-Job – sprich
     ein Einzeltraining am Arbeitsplatz. Mitarbeiter lernen das erforderliche Wissen und die Fähigkeiten direkt dort. Ein erfahrener
     Kollege – oft Mentor oder Pate genannt –, der Vorgesetzte oder ein spezieller Trainer
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