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Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman

Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman

Titel: Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Autoren: Sabine Klewe
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erfahren hatten, erleichterte diese Aufgabe nicht. Chris unterdrückte einen Seufzer und überlegte, ob er das Fenster ein Stück herunterkurbeln sollte. Den Gestank gegen die Kälte tauschen. Es war eisig draußen, doch im Augenblick erschien ihm die Aussicht auf frischen Wind nahezu unwiderstehlich, egal wie kalt er war.
    Lydia Louis hatte offenbar wieder eine ihrer wilden Nächte hinter sich. Zumindest roch sie so. Der Geruch erinnerte ihn an ihre erste Begegnung vor ein paar Monaten an einem grausigen Tatort im Wald. Sie hatte Schweiß, Sex und Alkohol ausgedünstet, und ihn hatte das mit einer Mischung aus Ekel und Faszination erfüllt. Obwohl er inzwischen kaum mehr über ihr Privatleben wusste als damals, war ihm der Geruch vertraut geworden. Er gehörte zu Lydia wie ihre blonde Strubbelfrisur und ihr ruppiger Tonfall. Dabei war er mit seiner feinen Nase vermutlich der Einzige, der ihn bemerkte. Vor allem wenn er, wie heute, dezent unter einer Duftschicht aus Duschgel und frisch gewaschener Kleidung verborgen war. Manchmal verfluchte er seinen übersensiblen Geruchssinn. In diesem Fall nicht. Im Gegenteil, er genoss dieses intime Wissen über seine Kollegin, die sonst so gut wie nichts von sich preisgab. Lediglich in der Enge des Autos konnte er ihre Duftnote manchmal nicht ertragen. Vor allem wenn er zusätzlich den süßlichen Leichengeruch der Rechtsmedizin in der Nase hatte.
    Er betrachtete Lydia von der Seite. Sie hatte klare blaue Augen und ein schmales kluges Gesicht. Wie immer trug sie einen ihrer schwarzen Strickrollis, dazu eine dunkelgrüne Cargohose und Schnürstiefel aus Leder. Die Kleidung verbarg ihre wenigen weiblichen Rundungen fast vollständig, verlieh ihr einen Hauch von Androgynität. Vielleicht bezweckte sie genau das damit. Was für ein Unterschied zu Sonja! Der Gedanke an die Frau, die vor wenigen Wochen in sein Leben getreten war, versetzte ihm einen Stich in die Brust. Er war sich nicht sicher, ob vor Freude oder vor Schreck.
    Sie hatte an seinem Bett gestanden, als er aus dem Koma erwacht war, und ihn angelächelt. »Hallo, Chris. Wie schön, dass es dir wieder gut geht.«
    Ein höllischer Schock war ihm durch die Glieder gefahren. Er hätte schwören können, dass er diese Frau nicht kannte. Dass er sie noch nie im Leben gesehen hatte. Warum also sprach sie ihn mit seinem Vornamen an? Sollte er sie kennen? War sie womöglich seine Freundin oder seine Ehefrau? Litt er unter Amnesie?
    Sie lachte, als sie sein entsetztes Gesicht sah. »Ich dachte mir schon, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Ich war eins von den langweiligen, hässlichen Mädchen, für die ihr Jungen euch nicht interessiert habt. Sonja Reiter. Die Brillenschlange.«
    Eine vage, kaum greifbare Erinnerung stieg in Chris auf, an ein pummeliges Mädchen mit einem langen fettigen Bauernzopf und einer dicken Brille. Sie hatte recht, er hatte sie kaum wahrgenommen, für ihn war sie nicht mehr als ein Teil der Klassenzimmereinrichtung gewesen. Wäre sie eines Tages nicht mehr zum Unterricht erschienen, hätte er es vermutlich nicht einmal bemerkt. Kinder können sehr grausam sein, schoss es ihm durch den Kopf.
    Ungläubig starrte er die Frau im weißen Kittel an, die immer noch auf ihn herablächelte. Der Unterschied zu dem verschwommenen Bild in seiner Erinnerung hätte nicht größer sein können. Ihr kastanienbraunes Haar fiel ihr in leichten Wellen auf die Schultern und umrahmte ein hübsches, rundes Gesicht mit großen dunklen Augen. Ihre Figur, die man unter dem engen weißen Kittel mehr als nur erahnen konnte, war rund und wohlgeformt.
    »Was – was machst du hier?«, fragte Chris. Seine Frage klang selbst in seinen Ohren dämlich, doch Sonja schien sie ihm nicht krummzunehmen.
    Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich arbeite hier. Ich bin Ärztin. Nicht in dieser Abteilung. In der Gynäkologie. Aber als ich erfuhr, dass du hier liegst, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, nach dir zu schauen.«
    Von da an kam sie täglich bei ihm vorbei, saß an seinem Bett und lächelte ihn mit ihrem Engelslächeln an. Da Chris zumeist einsilbig war, erzählte sie von ihrer Arbeit in der Klinik, von ihren Eltern, die sich eine Wohnung auf Mallorca gekauft hatten, und von ihrem Bruder, der bereits zum dritten Mal Vater wurde. Chris begann, sich an ihre Gesellschaft zu gewöhnen. Sonja war so unkompliziert und heiter. Sie verkörperte all das, was in seinem Leben fehlte. Leichtigkeit.
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