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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure
Autoren: Iny Lorentz
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die Küche verlassen, da drehte sich Elsa, die kleinere der beiden Schwestern, zu Marie um und sah sie mit leuchtenden Knopfaugen an. »Ich kann mir denken, warum du dich weggeschlichen hast. Du wolltest deinen Liebsten heimlich beobachten.«
    »Herr Ruppertus ist aber auch ein gut aussehender Mann«, setzte Anne mit seelenvollem Augenaufschlag hinzu. »So eine herrschaftliche Hochzeit ist schon eine andere Sache, als wenn unsereins ins Brautbett kommt.«
    Während sie Holz nachlegte, betrachtete sie die Tochter ihres Herrn mit einem Anflug von Neid. Marie Schärerin war nicht nur eine reiche Erbin, sondern zog auch mit ihrem engelsgleichen Gesicht, den großen, kornblumenblauen Augen und ihren langen blonden Haaren die Blicke der Männer auf sich. Ihre Nase war gerade lang genug, um nicht unbedeutend zu wirken, und ihr Mund sanft geschwungen und rot wie Mohn. Dazu besaß sie eine Figur, wie sie ebenmäßiger nicht sein konnte. Über ihren sanft gerundeten Hüften spannte sich eine schmale Taille, gekrönt vonBrüsten, die gerade die Größe zweier saftiger Herbstäpfel hatten. Ihr einfaches graues Kleid mit dem geschnürten Mieder brachte ihre Reize besser zum Vorschein, als es bei anderen Mädchen Samt und Seide vermochten.
    Anne war überzeugt, dass Magister Ruppertus sich in den höchsten Kreisen nach einer Frau hätte umsehen können, und nahm daher nicht an, dass er Marie nur wegen der großen Mitgift freite, die Meister Matthis ihr mitgeben würde. Wahrscheinlich hatte er sie auf dem Markt oder in der Kirche gesehen und sich von ihrer Schönheit einfangen lassen.
    Marie bemerkte Annes neiderfüllten Blick und zog unbehaglich die Schultern hoch. Sie musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass sie ungewöhnlich hübsch war. Das hatte sie in den letzten zwei Jahren beinahe von jedem Mann aus der Nachbarschaft zu hören bekommen. Die Komplimente waren ihr jedoch nicht zu Kopf gestiegen, denn der Pfarrer hatte ihr erklärt, dass nur die innere Schönheit zählte. Doch seit der Magister aufgetaucht war, fragte Marie sich, was sie ohne den Glanz der Goldstücke ihres Vaters wert war. Ruppert hatte um sie geworben, bevor er sie kannte, und deswegen nahm sie an, dass er sie nicht ihres Aussehens oder ihrer Tugenden wegen zur Frau nehmen wollte. Oder hatte er sie vorher schon einmal erblickt und sich in sie verliebt? So etwas gab es. Aber in dem Fall hätte er sich ihr gegenüber gewiss anders betragen.
    Anne betrachtete unterdessen ihr Spiegelbild auf der glänzenden Oberfläche des kupfernen Suppenkessels. Zu ihrem Leidwesen war sie ein ebenso farbloses, unscheinbares Geschöpf wie ihre rundliche Schwester. Sie beide besaßen kaum mehr als die Kleider, die sie auf dem Leib trugen, und mussten auf Freier hoffen, die eine zugreifende Hand körperlicher Schönheit vorzogen. Manchmal wurden Mägde von Gesellen zur Frau genommen, denen ihre Meister die Erlaubnis zum Heiraten gaben. Aber die meisten jungen Männer achteten darauf, dass ihre Bräute nichtnur sich selbst, sondern auch eine ansehnliche Mitgift in die Ehe brachten.
    Marie war mit den beiden Mägden aufgewachsen und wusste daher, dass Anne sich ähnliche Gedanken machte wie sie, nur von einem anderen Standpunkt aus. Wenn sie ihr Schicksal mit dem der Schwestern verglich, war sie froh und auch ein wenig stolz darauf, als gute Partie zu gelten. Gleichzeitig fühlte sie sich verunsichert, denn wie konnte sie glücklich werden, wenn ein so welterfahrener Mann wie Ruppertus Splendidus, der bei Ratsherren und Kirchenfürsten ein und aus ging, sie wegen ihrer Mitgift heiratete?
    Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, Tag für Tag mit einem Mann zusammenzuleben, der ihr nur wenig Liebe entgegenbrachte und für den sie selbst auch nicht viel empfinden konnte. Wina und der Pfarrer hatten ihr versichert, dass die Liebe mit der Ehe käme. Also musste sie sich bemühen, dem Magister eine gute Frau zu werden. Das sollte ihr eigentlich nicht schwer fallen, denn in ihrem Leben gab es keinen Mann, dem sie nachtrauerte. Der einzige Junge, für den sie eine gewisse Sympathie empfand, war Michel, ein Spielkamerad aus ihren Kindertagen. Er kam jedoch als Bräutigam nicht in Frage, denn als fünfter Sohn eines Schankwirts war er so arm wie eine Kirchenmaus. Es gab allerdings noch genügend andere junge Männer in Konstanz, die sie vom sonntäglichen Kirchgang und den Marktbesuchen her kannte. Sie fragte sich, warum ihr Vater sie nicht mit einem von ihnen verheiratet
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