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Die Wanderhure

Titel: Die Wanderhure
Autoren: Iny Lorentz
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ihr gespielt und ihr wundersame Geschichten erzählt. Dafür hatte sie ihm Blumenkränze gewunden und ihn bewundert wie einen König. Da sein Vater im Ansehen weit unter dem ihren stand, hatte man ihr, als sie zwölf wurde, den Umgang mit ihm verboten. Seitdem war sie ihm und seiner Familie meist nur noch in der Kirche begegnet.
    Jetzt stand Michel zum ersten Mal seit Jahren so nah vor ihr, dass sie ihn betrachten konnte. Er war zwar größer geworden, aber immer noch so dünn wie früher. Trotzdem wirkte er kräftig und zäh. Die hohe Stirn, ein schwerer Kiefer und breite Schultern, über denen sich der Stoff seines Kittels spannte, deuteten an, dass er an Gewicht zulegen würde, sowie er mehr als die schmale Kost bekam, die der Adlerwirt für seine nachgeborenen Söhne übrig hatte. Aus Michel konnte ein gut aussehender Mann werden, dachte Marie mit einem Anflug von Traurigkeit. Aber das würde ihm nicht viel helfen, denn als fünfter Sohn zählte er nicht mehr als ein Knecht und würde nie eine Familie gründen dürfen. Aus diesem Grund war es in ihren Augen reichlich unverfroren von ihm, ihr eine solche Frage zu stellen. Aber um der alten Freundschaft willen gab sie ihm eine Antwort.
    »Ich kenne den Herrn Magister ja kaum. Aber da mein Vater ihn ausgesucht hat, muss er der Richtige für mich sein.«
    Sie ärgerte sich über ihre Worte, noch während sie sie aussprach. Michel hätte sie ruhig die Wahrheit sagen können. Ihm schien die Antwort nicht zu gefallen, denn seine Augen blitzten wütend auf. Marie fragte sich, ob er wohl eifersüchtig war. Das wäre dumm von ihm, fand sie, denn er musste doch wissen, dass ihr Vater ihn nie als Bewerber in Betracht ziehen würde. MatthisSchärer hatte sogar Linhard Merk abgewiesen, der aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie stammte und als Schreiber bei ihm angestellt war. Marie konnte sich noch gut daran erinnern, wie zornig ihr Vater geworden war, weil Linhard es gewagt hatte, um ihre Hand anzuhalten. In der ersten Wut hatte er ihn sogar entlassen, ihn aber bald wieder zurückgerufen, denn der Mann hatte sich bereits unentbehrlich gemacht.
    Marie war froh, dass ihr Vater sie nicht mit Linhard verheiratet hatte, denn sie mochte ihn nicht. Der Schreiber dienerte vor ihrem Vater wie ein Leibeigener vor seinem adligen Besitzer, die Fuhrknechte und das Gesinde aber behandelte er von oben herab, als wäre er der Herr im Haus. Mit diesem Mann wäre sie gewiss nicht glücklich geworden. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, dass sie froh sein musste, einen gebildeten Herrn wie Magister Ruppertus zum Gatten zu bekommen.
    Michel ließ sich weder durch ihre knappe Erklärung noch durch ihre abweisende Miene abschrecken. »Liebt er dich?«
    Marie passte sein Tonfall nicht, daher fiel ihre Antwort schroffer aus als beabsichtigt. »Ich nehme es an. Sonst hätte er nicht um mich geworben.«
    Michel schnaubte verärgert. »Weißt du überhaupt, was für ein Mensch der Magister ist?«
    »Er ist ein angesehener und gelehrter Mann, und es ist eine Ehre für mich, dass er mich erwählt hat.« Das waren fast die gleichen Worte, mit denen ihr Vater ihr seine Entscheidung mitgeteilt hatte.
    Michel trat näher und blickte sie ernst an. »Glaubst du wirklich, dass du mit ihm glücklich wirst?«
    Marie hob angriffslustig das Kinn. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass ihn das nichts anginge. Gleichzeitig hoffte sie, dass Michel ihr etwas über ihren Bräutigam erzählen konnte.
    Gegen ihren Willen lächelte sie wehmütig. »Wie kann ich das wissen? Liebe und Glück kommen mit der Ehe, so heißt es doch.«
    »Ich wünsche es dir«, brach es aus Michel heraus. »Aber ich bezweifle es. Nach allem, was ich gehört habe, ist dieser Ruppert ein gefühlsarmer, berechnender Mensch, der um eines Vorteils willen über Leichen geht.«
    Marie schüttelte unwillig den Kopf. »Woher willst du das wissen? Du kennst ihn doch nicht persönlich.«
    »Ich habe so einiges mitbekommen, was Reisende in der Schankstube über ihn berichtet haben. Dein Magister ist ein bekannter Advocatus. Weißt du, was das ist?«
    »Nein, nicht genau.«
    »Ein Advocatus ist jemand, der Gesetze studiert und alte Pergamente durchforstet, um einem Mann vor Gericht einen Vorteil gegenüber einem anderen zu verschaffen. Ruppertus hat seinem Vater, dem Grafen Heinrich von Keilburg, schon mehrfach mit juristischen Winkelzügen geholfen, Burgen, Land und Leibeigene an sich zu raffen.«
    »Was soll daran schlecht sein? Der Graf hat sicher
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