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Die Wahrheit

Die Wahrheit

Titel: Die Wahrheit
Autoren: David Baldacci
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Blatt, darum bemüht, kein Geräusch zu machen, das eine Einladung an die Wächter wäre, in seiner Zelle herumzuschnüffeln. Die Beleuchtung im Gefängnis wurde bereits vor Stunden gelöscht; daran kann auch er nichts ändern. Wie schon seit einem Vierteljahrhundert wird für ihn die Dunkelheit erst mit der fahlen Helle des heraufdämmernden Morgens enden. Doch für Harms spielt es keine Rolle, ob seine Zelle hell oder dunkel ist. Er hat den Brief bereits gelesen, hat jedes Wort in sich aufgenommen. Jede Silbe schneidet wie die scharfe, kurze Klinge eines Springmessers. Am oberen Rand des Blattes befindet sich in Fettdruck das Emblem der Armee der Vereinigten Staaten. Er kennt es gut, sehr gut. Seit fast dreißig Jahren ist die Army sein Arbeitgeber, sein Wächter.
    Und nun verlangt sie Informationen von Rufus Harms, einem gescheiterten, vergessenen Soldaten aus der Vietnam-Ära. Detaillierte Informationen. Informationen, die er nicht geben kann. Auch ohne Licht findet sein Finger das Ziel und berührt jene Stelle auf dem Blatt, die Erinnerungsfetzen an die Oberfläche bringt - Bruchstücke, die in seinem Innern treiben, seit er hier einsitzt, all die Jahre, als ein lähmender, nie enden wollender Alptraum. Doch das Kernstück seiner Erinnerungen schien niemals greifbar zu sein. Bis jetzt. Bis er den Brief zum erstenmal gelesen hatte. Er hatte den Kopf so tief auf das Papier gesenkt, als wollte er mit Gewalt die verborgene Bedeutung der maschinengeschriebenen Kringel enthüllen, das größte Geheimnis seines irdischen Daseins lösen. An diesem Abend haben die verzerrten Bruchstücke und Fetzen sich mit einem Mal zu einer deutlichen Erinnerung zusammengefügt, zur Wahrheit. Endlich.
    Bis Harms diesen Brief von der Army gelesen hatte, besaß er nur zwei klare Erinnerungen an jene Nacht vor fünfundzwanzig Jahren: das kleine Mädchen und den Regen. Es war ein schreckliches Unwetter gewesen, beinahe so schlimm wie in dieser Nacht. Die Gesichtszüge des Mädchens waren fein geschnitten, die Nase eine bloße Knospe aus Haut und Knorpeln. Weder Sonne noch Alter noch Sorgen hatten Schatten in das Licht auf ihrem Antlitz geworfen; ihre durchdringenden Augen waren blau und unschuldig und noch ohne die Tiefe menschlicher Erfahrungen, allein die hoffnungsvolle Erwartung eines langen Lebens, das noch vor ihr lag, war darin zu lesen. Ihre Haut war weiß wie Zucker und makellos - bis auf die häßlichen roten Druckstellen an ihrem Hals, so zart und verletzlich wie eine Blume. Diese Druckstellen stammten von den Händen des Soldaten Rufus Harms, denselben Händen, die nun krampfhaft den Brief umklammerten, während sein taumelnder Geist wieder in eine gefährliche Nähe zu diesem Bild geriet.
    Immer wenn Harms an das tote Mädchen dachte, weinte er, mußte er weinen. Er konnte nicht anders. Doch er weinte stumm, und das aus gutem Grund. Die Wächter und Sträflinge waren Geier, Haie. Aus einer Million Kilometer Entfernung rochen sie Blut, Schwäche, eine Angriffsmöglichkeit. Sie erkannten sie am Zucken der Augen, an den geweiteten Poren der Haut, sogar am Geruch des Schweißes. Hier im Gefängnis waren alle Sinne geschärft. Hier bedeuteten Kraft und Schnelligkeit, Härte und Brutalität das Leben. Oder den Untergang.
    Harms kniete neben dem Mädchen, als die Militärpolizisten es fanden. Ihr dünnes Kleid klebte an ihrer winzigen Gestalt, die tief im durchnäßten Boden lag, als hätte man sie aus großer Höhe fallen lassen, in ihr eigenes flaches Grab, das sie mit ihrem Körper gebildet hatte. Einmal hatte Harms zu den Militärpolizisten aufgeblickt, doch sein Verstand hatte lediglich einen Wirrwarr dunkler Silhouetten registriert. Nie im Leben hatte er eine solche Wut verspürt, selbst dann noch, als Übelkeit ihn packte, als die Welt sich vor seinen Augen drehte und als Puls, Atmung und Blutdruck ins Bodenlose fielen. Er hielt seinen Kopf mit beiden Händen umklammert, als wollte er verhindern, daß ihm das Hirn die Schädelknochen sprengte und durch Kopfhaut und Haar in die regennasse Luft explodierte.
    Als er wieder auf das tote Mädchen hinunterschaute und den Blick dann auf die beiden zuckenden Hände richtete, die ihrem jungen Leben ein Ende bereitet hatten, war der Zorn so plötzlich aus Harms gewichen, als hätte jemand in seinem Inneren einen Stöpsel gezogen. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht; er konnte sich nicht rühren, konnte nur dort hocken, naß und zitternd, die Knie tief im Schlamm versunken, und auf das
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