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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Autoren: Joël Dicker
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Freude am Leben zurückgegeben hatte, war derselbe, der sie ihm einst genommen hatte. Ein Albtraum! Doch jetzt zählte nur eines: Er musste seine Liebesgeschichte beenden. Er musste Nola den letzten Brief noch geben. Er hatte ihn schon vor knapp drei Wochen geschrieben, nämlich an dem Tag, an dem er Harry und Nola hatte sagen hören, dass sie am 30. August fliehen wollten. Danach hatte er in aller Eile sein Buch fertig geschrieben. Das Original hatte er Harry Quebert überlassen, weil er wissen wollte, ob es sich lohnte, es verlegen zu lassen. Doch jetzt spielte das alles keine Rolle mehr. Er hatte sogar darauf verzichtet, sich seinen Text zurückzuholen. Er hatte die Schreibmaschinenfassung behalten und sie für Nola hübsch binden lassen. An diesem Samstag, dem 30. August, wollte er den letzten Brief, der ihre Geschichte beenden sollte, in den Briefkasten der Kellergans legen, zusammen mit dem Manuskript, damit Nola sich immer an ihn erinnerte. Welchen Titel sollte er dem Buch geben? Er hatte keine Ahnung. Das Buch würde nie erscheinen – warum ihm also einen Titel geben? Er hatte lediglich eine Widmung auf das Deckblatt geschrieben, um ihr gute Reise zu wünschen: Adieu, allerliebste Nola.
    Er wartete in seinem Wagen, bis es hell wurde. Er wartete, bis sie herauskam. Er wollte sichergehen, dass sie diejenige war, die das Buch fand. Seit sie sich schrieben, hatte immer sie die Post hereingeholt. Er wartete und versteckte sich, so gut er konnte. Niemand durfte ihn sehen, schon gar nicht dieser brutale Travis Dawn, sonst würde er sein blaues Wunder erleben. Er hatte für den Rest seines Lebens genug Schläge eingesteckt.
    Um elf Uhr trat sie endlich aus dem Haus. Wie immer schaute sie sich um. Sie strahlte und trug ein hinreißendes rotes Kleid. Eilig lief sie zum Briefkasten und lächelte, als sie das Kuvert und das Paket erblickte. Als sie den Brief gelesen hatte, musste sie sich an der Wand festhalten. Dann rannte sie weinend ins Haus. Sie würden nicht zusammen fortgehen, Harry würde nicht im Motel auf sie warten. Sein letzter Brief war ein Abschiedsbrief.
    Sie flüchtete sich in ihr Zimmer und warf sich kreuzunglücklich aufs Bett. Warum? Warum verstieß er sie? Warum hatte er ihr eingeredet, dass sie sich immer lieben würden? Sie blätterte im Manuskript. Was war das für ein Buch, von dem er ihr nie erzählt hatte? Ihre Tränen tropften aufs Papier und befleckten es. Das waren ihre Briefe! All die Briefe, die sie sich geschrieben hatten, waren darin, auch der letzte: Mit ihm endete das Buch. Er hatte sie von Anfang an belogen. Er hatte nie vorgehabt, mit ihr zu fliehen. Vom vielen Weinen bekam sie Kopfschmerzen. Ihr war so elend zumute, dass sie sterben wollte.
    Leise öffnete sich ihre Zimmertür. Ihr Vater hatte sie schluchzen hören. »Was ist los, mein Schatz?«
    »Nichts, Papa.«
    »Von wegen nichts! Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt …«
    »Ach, Papa! Ich bin traurig! Ich bin ja so traurig!« Sie fiel dem Reverend um den Hals.
    »Lass sie los!«, rief plötzlich Louisa Kellergan. »Sie verdient keine Liebe! Lass sie los, David, hörst du?«
    »Hör auf, Nola … Fang nicht wieder damit an!«
    »Sei still, David! Du bist ein Versager! Du hast damals nichts unternommen! Jetzt muss ich die Sache selbst in die Hand nehmen.«
    »Nola! Um Himmels willen! Beruhige dich! Beruhige dich doch! Ich werde nicht zulassen, dass du dir wieder etwas antust.«
    »Lass uns allein, David!«, fauchte Louisa und stieß ihren Mann heftig von sich.
    Hilflos wich er in den Flur zurück.
    »Komm her, Nola!«, schrie die Mutter. »Komm hierher! Ich werd’s dir zeigen!«
    Die Tür fiel zu. Reverend Kellergan war wie gelähmt. Durch die Wand hörte er, was sich im Zimmer abspielte.
    »Mutter, bitte nicht! Hör auf! Bitte hör auf!«
    »Hier, das kommt davon! Das macht man mit Mädchen, die ihre Mutter getötet haben.«
    Der Reverend stürzte in die Garage, stellte den Plattenspieler an und drehte die Lautstärke voll auf.
    Den ganzen Tag dröhnte die Musik durch das Haus und die Nachbarschaft. Die Passanten blickten missbilligend zu den Fenstern. Ein paar von ihnen sahen sich vielsagend an: Man wusste ja, was bei den Kellergans los war, wenn so laute Musik lief.
    Luther hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er saß immer noch am Steuer seines zwischen den am Straßenrand geparkten Autos versteckten Chevrolets und ließ das Haus nicht aus den Augen. Warum hatte sie angefangen zu weinen? Hatte ihr sein Brief nicht
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