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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks
Autoren: Liane Moriarty
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Osterferien, und so würde es ein paar Tage dauern, bis Cecilia alle Mitglieder von Pollys »Rehabilitationsteam« kennenlernte, darunter einen Physiotherapeuten, einen Ergotherapeuten, einen Psychologen, einen Prothese-Spezialisten. Es war sowohl tröstlich als auch erschreckend zu wissen, dass es dafür ein festes Prozedere gab mit Informationspaketen und »Toptipps«, dass alles seiner Wege gehen würde, Wege, die so viele andere Eltern schon vor ihnen beschritten hatten. Jedes Mal, wenn jemand mit Cecilia mit sachlich nüchterner Autorität über all das sprach, was ihnen nun bevorstand, gab es einen Moment, in dem sie den Faden verlor, da sie sich urplötzlich vom Schock wie gelähmt fühlte. Niemand im Krankenhaus schien sonderlich überrascht von dem zu sein, was Polly zugestoßen war. Keiner der Krankenschwestern oder Ärzte hielt Cecilia am Arm und sagte: Oh, mein Gott, ich kann es nicht fassen! Ich kann es einfach nicht fassen. Natürlich, es wäre befremdlich, wenn sie es täten. Doch es war auch irgendwie befremdlich, dass sie es nicht taten.
    Und deshalb war es so ungemein tröstlich, Dutzende von Nachrichten von Familienangehörigen und Freunden auf ihrer Handy-Mailbox zu empfangen; zu hören, dass ihre Schwester Bridget den Schock kaum verkraften könne; Mahalia zu hören, die sonst durch nichts so leicht aus der Fassung zu bringen war, deren Stimme jetzt aber vor Schmerz versagte; die Schulleiterin Trudy Applebee zu hören, die in Tränen zerfloss, sich entschuldigte, um gleich danach noch einmal anzurufen. (Und ihre Mutter erzählte, dass die Schulmütter eifrig Nachbarschaftshilfe betrieben und ganze vierzehn Töpfe mit selbst zubereiteten Gerichten geliefert hätten. Cecilias Hilfsbereitschaft, ihre guten Taten der vergangenen Jahre würden nun erwidert.)
    »Mummy«, murmelte Polly leise und mit geschlossenen Augen. Sie schien im Schlaf zu sprechen. Sie schauderte, und ihr Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen, unruhig und aufgewühlt, als hätte sie Schmerzen oder Fieber. Cecilias Hand wanderte zur Ruftaste, aber dann beruhigte sich Pollys Gesichtsausdruck.
    Cecilia atmete tief durch. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Das passierte ihr immer wieder. Sie musste sich bewusst daran erinnern ein- und auszuatmen.
    Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fragte sich, wie es John-Paul wohl zu Hause mit den Mädchen ginge, und verspürte urplötzlich einen starken, hasserfüllten Krampf, so stark, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Sie hasste ihn für das, was er Janie Crowley vor all den Jahren angetan hatte. Er war verantwortlich für Rachel Crowleys Bleifuß auf dem Gaspedal. Der Hass breitete sich in Cecilias ganzem Körper aus wie ein schnell wirkendes Gift. Sie wollte ihn treten, schlagen, töten. Du lieber Gott. Sie könnte es nicht ertragen, in einem Raum mit ihm zu sein. Cecilia atmete flach und sah sich verzweifelt nach etwas um, das sie zertrümmern konnte, auf das sie einschlagen konnte. Nein, nicht jetzt, ermahnte sie sich, das ist nicht der richtige Moment. Das wird Polly nicht helfen.
    Er gibt sich selbst die Schuld, sagte sie sich. Der Gedanke an sein Leiden verschaffte ihr etwas Erleichterung. Der Hass schrumpfte allmählich auf ein erträgliches Maß. Doch sie wusste, dass er wiederkehren würde, dass sie mit jeder neuen Phase, die Polly zu durchleiden hatte, einen Schuldigen suchen würde, mit Ausnahme ihrer selbst. Doch genau darin, in ihr selbst, lag die Wurzel ihres Hasses: Im Wissen um ihre eigene Verantwortlichkeit. Ihr Entschluss, Rachel Crowley zu opfern für ihre eigene Familie, hatte letztendlich zu diesem Moment in diesem Krankenzimmer geführt.
    Sie wusste, dass ihre Ehe bis ins Mark erschüttert war, doch sie wusste auch, dass sie gemeinsam weiterhumpeln würden wie zwei verwundete Soldaten. Polly zuliebe. Sie, Cecilia, würde lernen, mit den wiederkehrenden Wogen des Hasses zu leben. Es würde ihr Geheimnis bleiben. Ihr abgrundhässliches Geheimnis.
    Und wenn die Wogen vorüber waren, wäre da immer noch Liebe. Aber diese Liebe war eine vollkommen andere als die leichte, grenzenlose Liebe, die sie damals als junge Frau empfunden hatte, als sie den Kirchengang hinunter zum Altar geschritten und diesem ernsten, schönen Mann entgegengegangen war. Aber sie wusste, dass sie ihn immer lieben würde, ganz egal, wie sehr sie ihn hasste für das, was er getan hatte. Die Liebe war nach wie vor da, wie ein Saum aus Gold tief in ihrem Herzen.
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