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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks
Autoren: Liane Moriarty
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immer noch dunkel. Ungefähr fünf Uhr früh. Will lag mit dem Gesicht zur Wand auf seiner Seite neben ihr und schnarchte leise vor sich hin. Seine Gestalt, sein Geruch, das Gefühl, dass er neben ihr lag, das alles war so normal, so vertraut. Umso unbegreiflicher schienen die Ereignisse der vergangenen Woche.
    Sie hätte es auch einrichten können, dass er auf dem Sofa schlief, doch dann hätte Liam sie mit Fragen gelöchert. Er hatte sowieso schon bemerkt, dass alles etwas anders war als sonst. Beim Abendessen war ihr aufgefallen, dass seine Blicke ständig hin- und herflogen und er jedes Wort, das gewechselt wurde, höchst aufmerksam verfolgte. Sein skeptisches, kleines Gesicht brach ihr das Herz und machte sie so sauer auf Will, dass sie es kaum ertrug, ihn anzuschauen.
    Tess rückte ein bisschen von ihm weg, damit sie sich nicht berührten. Es war ihr ganz recht, dass sie ihr eigenes kleines, schmutziges Geheimnis hatte. Es half ihr, sich zu beruhigen, wenn sie mal wieder vor Wut schäumte. Er hatte ihr unrecht getan. Er hatte ihr ein Leid zugefügt. Und sie hatte prompt zurückgeschlagen.
    Litten sie beide unter einer Form von vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit? Immerhin galt so etwas als Erklärungsgrund für einen Mord. Wieso also nicht für verheiratete Paare? Die Ehe war schließlich eine Form von Wahnsinn. Die Liebe schwebte stets am Rande drohender Veränderungen.
    Connor schlief jetzt wahrscheinlich in seiner hübschen kleinen Wohnung, in der es nach Knoblauch und Waschpulver roch. Er war bestimmt schon dabei, sie abzuhaken, sie zum zweiten Mal zu vergessen. Ob er sich wohl in den Hintern biss, weil er zum wiederholten Mal auf diese nichtsnutzige, kaltherzige Frau hereingefallen war? Wozu das ganze Gesülze und Geschwafel? Vermutlich, um alles zu beschönigen. Damit ihr Verhalten gefühlvoll und wehmütig erschien, nicht schlampenhaft oder nuttig. Tess hatte so ein Gefühl, dass Connor auf schnulzige Musik stand, auf Countrymusic, aber vielleicht reimte sie sich das auch nur zusammen, vielleicht verwechselte sie ihn mit einem anderen Ex.
    Will konnte Countrymusic nicht ausstehen.
    Deshalb war der Sex mit Connor so gut, weil sie im Grunde Fremde füreinander waren. Es war seine »Andersartigkeit«. Sie machte alles aus. Körper, Ausstrahlung, Gefühle – alles schien sehr viel stärker definiert und daher übermächtig zu sein. Es war nicht logisch, doch umso besser man einen Menschen kannte, desto unklarer sah man ihn. Es war die Ansammlung von Fakten, die das Bild verschwimmen ließ. Es war sehr viel prickelnder, sich zu fragen, ob jemand Countrymusic mochte oder nicht, als die Antwort darauf zu kennen.
    Will und sie hatten bestimmt schon Tausende Male miteinander geschlafen. Mindestens. Sie fing an nachzuzählen, war jedoch zu müde dazu. Der Regen wurde stärker, als hätte jemand den Ton lauter gestellt. Liam würde die Ostereier mit Regenschirm und Gummistiefeln suchen müssen. Es war bestimmt nicht der erste verregnete Ostersonntag in ihrem Leben. In ihrer Erinnerung aber schien immer die Sonne von einem blauen Himmel, und es kam ihr vor, als wäre es der allererste traurige, verregnete Ostersonntag ihres Lebens.
    Liam würde sich nicht am Regen stören. Im Gegenteil. Er würde es toll finden. Will und sie würden einander ansehen, lachen und schnell wieder wegsehen. Sie würden beide an Felicity denken und daran, wie seltsam dieser Tag ohne sie war. Könnten sie das wirklich schaffen? Könnten sie dafür sorgen, dass es funktionierte, ihrem wunderbaren, kleinen sechsjährigen Jungen zuliebe?
    Tess schloss die Augen und drehte sich um, mit dem Rücken zu Will.
    Vielleicht hat Mum recht , dachte sie verschwommen. Alles dreht sich um das eigene Ego . Tess hatte das Gefühl, kurz davor zu sein, etwas ganz Wichtiges zu verstehen. Sie könnten sich beide neu verlieben, oder sie könnten den Mut aufbringen, ihre Scham zu überwinden, um die dicke, alte Haut abzustreifen und dem anderen eine völlig unbekannte »Andersartigkeit« zu zeigen. Wenn sie das schafften, würde es auch gar keine Rolle mehr spielen, auf welche Art von Musik sie standen. Doch ihr schien, als hätten sie beide viel zu viel Stolz, der ihrem Selbstschutz diente, um alle alten Hautschichten abzustreifen und vor ihrem Langzeitpartner einen Seelen-Striptease hinzulegen. Es war sehr viel leichter, so zu tun, als wüsste man alles voneinander, und die Beziehung unbeschwert dahinplätschern zu lassen. Und eine wahre intime Nähe
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