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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks
Autoren: Liane Moriarty
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zum eigenen Partner war fast schon peinlich. Wie sollte man tiefste Leidenschaften oder banalste Ängste mit ihm teilen, wenn man ihm eben noch beim Zähneputzen zugesehen hatte? Es war sehr viel leichter, über all diese Dinge zu sprechen, bevor man Badezimmer und Konto teilte und sich darüber stritt, wie man den Geschirrspüler richtig einräumt. Doch jetzt, da es nun mal so passiert war, hatten sie und Will keine andere Wahl. Andernfalls würden sie einander erbittert hassen für das, was sie Liam zuliebe opferten.
    Vielleicht hatten sie bereits am vergangenen Abend damit angefangen, als sie einander ihre kleinen Geschichten über kahle Stellen am Hinterkopf und Quizabende an der Schule erzählt hatten. Wenn sie sich vorstellte, wie Will beinahe aus den Latschen gekippt war, als die Frisörin ihm den Spiegel hingehalten hatte, um ihm sein sich lichtendes Haar zu zeigen, war sie ebenso amüsiert wie tief berührt gewesen.
    Der Kompass, den ihr Vater ihr geschickt hatte, lag auf dem Nachtisch. Sie fragte sich, wie die Ehe ihrer Eltern verlaufen wäre, wenn sie ihretwegen zusammengeblieben wären. Wenn sie es ernsthaft versucht hätten, aus Liebe zu ihr, Tess. Hätten sie es schaffen können? Wahrscheinlich nicht. Aber sie war überzeugt, dass Liams Glück der alleingültige Grund dafür war, dass sie beide jetzt hier waren.
    Sie dachte daran, wie Will gesagt hatte, dass er ihre Spinne zerquetschen wolle. Er wollte sie wirklich töten.
    Vielleicht war er ja nicht nur wegen Liam hier.
    Und sie vielleicht auch nicht.
    Der Wind heulte auf, und die Fensterscheiben klapperten. Die Raumtemperatur schien abrupt zu sinken, und Tess spürte plötzlich eine Eiseskälte am ganzen Körper. Gott sei Dank hatte Liam seinen warmen Schlafanzug an, und Gott sei Dank hatte sie ihn mit einer zweiten Decke extrawarm zugedeckt. Andernfalls müsste sie jetzt in der Kälte aufstehen und nach ihm sehen. Sie drehte sich um und schmiegte sich dicht an Wills Rücken. Seine Wärme zu spüren tat gut, verschaffte ihr wohlige Linderung, und sie spürte, wie sie langsam wieder in den Schlaf hinüberglitt und ihre Lippen in seinen Nacken drückte, wie zufällig, ganz unwillkürlich. Sie spürte, dass Will sich regte und sich langsam umdrehte, nahm seine Hand und legte sie auf ihre Hüfte, damit er sie streichelte, und ohne dass einer von ihnen es darauf angelegt hätte, etwas gesagt oder gefragt hätte, waren sie mitten dabei, miteinander zu schlafen – ein ruhiger, dösiger, ehelich intimer Akt, und jede Bewegung fühlte sich süß an, leicht und vertraut, außer dass sie normalerweise nicht weinten.

58
    »Grandma! Grandma!«
    Rachel erwachte langsam aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sie geschlafen hatte, ohne das Licht anzulassen. Vor den Fenstern in Jacobs Zimmer hingen wie in einem Hotel schwere, dunkle Vorhänge. Rachel war am vergangenen Abend auf dem Ausziehsofa neben seinem Kinderbett fast augenblicklich eingeschlafen. Lauren hatte recht. Das Schlafsofa war erstaunlich bequem. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so tief und fest geschlafen hatte. Es fühlte sich an wie eine Kunst aus ihrer Vergangenheit, von der sie geglaubt hatte, sie für immer verloren zu haben, genau wie das Radschlagen.
    »Hallo«, sagte sie. Sie konnte gerade eben den Umriss von Jacobs kleinem Körper erkennen. Er stand neben ihrem Bett. Sein Gesichtchen war direkt vor ihr, und seine Augen glänzten in der Dunkelheit.
    »Du hier !« Er war völlig erstaunt.
    »Ich weiß«, antwortete sie und war selbst erstaunt. Lauren und Rob hatten ihr so oft schon angeboten, bei ihnen zu übernachten, doch sie hatte immer entschieden abgelehnt, als hätte sie geradezu religiöse Einwände dagegen.
    »Es regnet«, erklärte Jacob feierlich. Ja, jetzt hörte sie es auch. Es war ein starker, anhaltender Regen.
    Es gab keine Uhr im Zimmer, doch es fühlte sich ungefähr wie fünf, sechs Uhr an, zu früh, um den Tag zu beginnen. Mit einem leicht beklemmenden Gefühl fiel ihr ein, dass sie versprochen hatte, zum Ostersonntagsessen mit zu Laurens Eltern zu kommen. Ob sie eine Krankheit vorschützen könnte? Immerhin hatte sie heute bei Rob und Lauren übernachtet, und die beiden würden bis zum Mittagessen bestimmt genug von ihr haben – und sie von ihnen.
    »Willst du zu mir schlüpfen?«, fragte sie Jacob.
    Er gluckste vor Freude, als wäre seine Grandma ein wenig verrückt. Flugs hopste er aufs Bett und grub sein
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