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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus
Autoren: Wolfgang Jeschke
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gewaltigen, glatten Steinplatten aus einem unbekannten Steinbruch gemacht. Und unter den sichtbaren Gebäuden liegt ein unendlich weites Netz von Gängen.
    Bevor wir Das Buch fanden, glaubte ich wie jeder andere an diese Geschichten. Aber der Tempel wurde in Wirklichkeit nicht als Gefängnis gebaut. Viele Dinge der Welt verstehe ich nicht, aber ich weiß, was es bedeutet, einem Herrn zu dienen. Manchmal glaube ich, daß der große Makna sogar ein Diener von Radna war, und daß er den Tempel baute, weil Radna es verlangte.
     
    Mera war viele Wochen krank, nachdem Arain zum Tempel gegangen war. Sie ließen mich nur zu ihr, weil sie oft nach mir fragte. Der Alte Mathias verstand es, wenn ich meine Arbeit nicht schaffte.
    Meras Gesicht und ihre Handrücken waren schrecklich verbrannt und mit Blasen bedeckt. Wir wußten lange nicht, ob sie wieder würde sehen können. Sie bekam ein wütendes Fieber, so daß sie nicht mehr essen konnte. Aber noch viel schlimmer war die Krankheit in ihrem Herzen, auch wenn sie nicht darüber sprach. Sie fragte erst nach Arain, als sie vom Delirium überwältigt wurde. Dann rief sie immer wieder den Namen ihrer Schwester. Ich hatte Angst, daß sie sterben könnte. Ich machte mir große Sorgen, denn mir schien, meine beiden Schwestern entglitten mir vor meinen Augen. Und nach einer Weile faßte ich Mut und ging zum Tempel von Handred, um Arain zu suchen.
    Es war ein sehr weiter Weg für einen heißen Sommertag, und obwohl die Straße am grünen Rand des Umbya verlief, war ich müde und erschöpft, als ich schließlich vor den dunklen Holztoren des Tempels stand. Ich war noch nie so nahe am Tempel gewesen, und ich wußte nicht, wie man hineinkam. Es war ein erschreckender Ort, ein toter Ort, gespenstisch und fremdartig. In der Nähe wuchs nichts; selbst die Vögel schienen ihn zu meiden. Es gab keine Bäume und kein Gras. Nur nackte, harte Erde und kahlen Stein und öde, fensterlose Gebäude, die sich zwischen den Felsen erhoben wie alte, graue Ungeheuer.
    Ich fand keinen Klopfer und keine Türkette, und meine Fäuste machten auf dem dicken Holz der Tore nur ein leises Geräusch wie eine Motte. Aber ich war jung, und es fiel mir nicht schwer, die Lehmmauer zu überklettern und in den weiten Innenhof hinabzusteigen. Direkt vor mir stand ein flaches, graues Gebäude mit einem ebenen Dach und mächtigen Türen aus grünem, zerkratztem Kupfer. Auf den Türen stand etwas geschrieben, aber ich konnte es nicht lesen. Ich verstand die Buchstaben nicht, obwohl sie mir irgendwie bekannt vorkamen. Sie standen schon länger dort, als ich mir vorstellen wollte. Vielleicht hatte Makna selbst sie eingraviert.
    Abermals fand ich keinen Klopfer, und diesesmal wußte ich nicht weiter. Der Hof war leer, und niemand war zu sehen.
    Plötzlich hörte ich hinter mir eine Stimme. »Was willst du, Kind?«
    Ich fuhr erschrocken herum und sah einen hageren, bleichen Mann. Sein Haar war dünn und schütter, und seine dunklen Augen hatten einen milchigen Film wie die Nickhaut eines Falken. Ich hätte vor Abscheu beinahe geschrien.
    »Ich muß zu Arain«, erwiderte ich, als ich mich wieder in der Gewalt hatte.
    »Dann bist du ihr Bruder, was?« sagte der Fremde.
    »Woher weißt du das?«
    »Das ist nicht schwer zu erraten, Kind. Sie hat mir einiges über sich erzählt, auch von dir, zum Beispiel. Dein Name ist Kirth, was?« Er grinste. Seine verfärbten Zähne saßen wie Grabsteine im wunden, geschwollenen Zahnfleisch.
    Er war so schrecklich, daß ich plötzlich eine unvernünftige Angst um Arain bekam.
    »Was habt ihr mit ihr gemacht? Ich will sie sehen!« rief ich.
    »Du bist genau wie sie«, murmelte er und spuckte rötlichen Speichel in den Staub. »Mach dir keine Sorgen. Ich hole sie.« Und er schritt die Treppe hinauf, zog die Tür auf und verschwand, immer noch murmelnd, dahinter.
    Noch nie waren mir die Minuten so langsam vergangen wie an diesem Tag, während ich in der Sommersonne stand und darauf wartete, daß sich die Türen des Tempels von Handred wieder öffneten. Ich kann nicht einmal sagen, wovor ich Angst hatte. Wenn nicht der Mann, sondern ein Tier gekommen wäre, dann wäre ich zweifellos sofort meinen Instinkten gefolgt und hätte den Ort verlassen, wie es die Vögel getan hatten. Aber so zitterte ich nur und zwang mich zu bleiben.
    Endlich schwangen die Türen auf, und Arain trat aus der Dunkelheit. Sie trug das lange, schwarze Gewand des Dienstes, gegen welches ihr Gesicht und die Hände und das Haar
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