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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition)
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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kaschieren. An diesem Montagmorgen saß sie ihm erneut in seinem Büro gegenüber. Sie hätte nun eine bessere, persönlichere Antwort in petto gehabt, aber ihr Vorgesetzter stellte nicht die richtige Frage. Genauer gesagt, stellte er gar keine Fragen, sondern warf ihr über den Rand seiner Brille einen kritischen Blick zu.
    Den Termin hatte Schreyers Sekretärin Siggi erst angeboten, nachdem Nora damit gedroht hatte, in die nächstbeste Sitzung zu marschieren, um ihre Erkenntnisse nicht nur mit Schreyer, sondern auch mit allen anderen Anwesenden zu teilen. Doch nun, wo sie freie Fahrt hatte, kostete es sie unendlich viel Kraft, ihre Überlegungen zu Gehör zu bringen. Was ihr noch vor ein paar Stunden logisch erschienen war, mutete jetzt wie eine wirre Verschwörungstheorie an. Doch ihre Wut und Enttäuschung brauchten ein Ventil, sonst würde sie daran ersticken.
    »Ich weiß, dass es politisch unklug ist, so etwas zu sagen, aber ich denke, Broussier hat die Aktion mit voller Absicht gegen die Wand fahren lassen.«
    »Tatsächlich?«, entgegnete Schreyer mit gespielter Überraschung und nahm seine Brille ab, um an den Bügeln herumzuspielen.
    »Er hat es darauf angelegt, dass die Situation eskalierte. Damit er aller Welt vor Augen führen konnte, dass man solche Monster unter keinen Umständen freilassen darf. Sonst braucht man ein Riesenaufgebot an Polizei, Überwachung und Geld.«
    »Finden Sie das nicht ein bisschen weit hergeholt?«
    »Warum hat man Lefeber, Tibursky und Rosen systematisch Hilfe vorenthalten? Sie so gut wie gar nicht auf die Entlassung vorbereitet? Ein überlasteter Bewährungshelfer, der einmal in der Woche für ein kurzes Gespräch anreist – nennen Sie das etwa Unterstützung? Meine Hilfsangebote wurden allesamt ausgeschlagen. Ich musste in meiner Freizeit nach Scheelbach fahren, um zu helfen. Und was hat die Polizei getan, um die Menschen vor Ort aufzuklären, die Situation zu deeskalieren? Gar nichts.«
    »Das ist nicht Aufgabe der Polizei, Frau Winter. Die Politik und die Richter haben uns den Schwarzen Peter zugeschoben, indem sie dafür gesorgt haben, dass diese Leute überhaupt freigelassen wurden.«
    »Das Hauptproblem liegt ganz woanders, Herr Schreyer. Es ist eben nicht damit getan, die Leute einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen. Man muss Zeit und Arbeit und Veränderungsbereitschaft investieren. Ein Thema, das uns alle angeht.«
    Siggi öffnete die Tür zu Schreyers Büro und wies ungeduldig auf den nächsten Termin hin. Noras Chef erhob sich hinter seinem Schreibtisch. In seinem grauen Anzug, mit der altmodischen Krawatte und dem abgenutzten Lächeln, wirkte er nur noch wie ein müder Beamter.
    »Ich werde Ihre konstruktive Kritik gern an die entsprechenden Stellen weiterleiten, Frau Winter, sofern Sie diese schriftlich aufbereiten. Für so etwas haben wir ja das interne Vorschlagswesen. Ist sonst noch etwas?«
    Nora öffnete ihre Handtasche und holte einen Gegenstand heraus, der in Seidenpapier eingeschlagen war. Unter Schreyers neugierigen Blicken wickelte sie die grüne Baumschlange aus Ton aus, die Tibursky ihr geschenkt hatte. Sie gehörte zu den wenigen Dingen, die von der Feuerwehr aus der Asche der einstigen Schreckenmühle geborgen werden konnten. Gideon hatte die Einzelteile wieder zusammengeklebt. Die grüne Lasur war an vielen Stellen schwarz verfärbt, und dort, wo sich das Auge befunden hatte, leuchtete der gebrannte Ton hellrot; die Schäden ließen das Tier noch exotischer wirken.
    Nora suchte und fand einen Platz auf einem niedrigen Aktenschrank, wo sie die Schlange auf einem Papiertaschentuch absetzte und ihr einen letzten Blick zuwarf.
    »Die ist von Tibursky. Damit Sie sich immer vor Augen halten, dass er nicht nur ein Monster war, sondern auch ein Mensch mit einer künstlerischen Gabe.«
    Schreyer fixierte das Reptil mit schmalen Lippen und strich sich über den Kinnbart.
    Siggi rief von draußen herein, dass es nun ›wirklich allerhöchste Zeit‹ sei.
    Nora verließ Schreyers Büro und durchquerte das Vorzimmer. Auf ihren freundlichen Abschiedsgruß an Siggi erhielt sie keine Antwort.
    *
    Mit vier Toten, sechs an der Leichenöffnung beteiligten Ärzten, etlichen Polizisten und Juristen herrschte im großen Saal im Untergeschoss des rechtsmedizinischen Instituts Gedränge. Die Herren Breitenecker und Chiazza – ein tief gebräunter lebensfroher Italiener, der aussah wie ein neapolitanischer Schnulzensänger – führten die Autopsie durch.
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