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Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)

Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)

Titel: Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)
Autoren: Maria Àngels Anglada
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Vogelschreie, die aus der Ferne, vom großen Fluss herüberkamen – von draußen, wo Bäume wuchsen und es auch andere Farben gab als Grau und Weiß. Er kannte den ursprünglichen Namen des großen Flusses. Ein Barackenkamerad, ein als Sozialist inhaftierter Professor aus Krakau, der einem schlimmeren Los entgangen war, weil er in den Listen als Bäcker geführt wurde – er war der Sohn eines Bäckers und verstand es, Teig zu kneten und in den Ofen zu schieben -, hatte ihm jedoch einen ungewöhnlicheren Namen gegeben: Acheron.
    Er konzentrierte sich wieder auf die Geige. Nein, er war nicht zu optimistisch gewesen, er hatte die Situation richtig eingeschätzt: Der Riss war nicht tief, die Ränder ließen sich mit ein wenig Druck zusammenfügen, sie waren nicht ausgesplittert, gepriesen sei Jahwe. Dann sah er sich um, ob ihm irgendeiner der kleinen Keile, die sie bei der Tischlerarbeit verwendeten, nützlich sein konnte. Glücklicherweise hielten sie die Werkzeuge immer in Ordnung. Er fand zwei maßgerechte, glatte Stücke, die er nicht abschleifen musste. Knochenleim gab es keinen, wohl aber ziemlich guten Fischleim, den sie für die Feinarbeiten im Pavillon des Tyrannen zurückbehalten hatten. Er zündete den kleinen Kocher an, erhitzte den Leim vorsichtig und achtete darauf, dass er nicht zu dick wurde.
    Er war wieder er selbst, keine Nummer, keine Zielscheibe des Spotts: Er war Daniel, von Beruf Geigenbauer. Eine Zeit lang dachte er an nichts, nur an seine Arbeit, die sein ganzer Stolz war. Er hatte sogar den Hunger vergessen, und seine Augen glänzten vor Anspannung und Hingabe. Mit geschickten Fingern bestrich er vorsichtig nach und nach den Rand des Risses auf beiden Seiten und massierte den Leim mit kreisenden Bewegungen in die Decke ein. Er prüfte das Ergebnis mit dem Blick eines Kenners – er war ja sozusagen mit Geigen aufgewachsen – und befand es für gut. Die Maserung des Holzes fügte sich ineinander, der kleine Riss würde sich tadellos verschließen. Für eine gewisse Zeit jedenfalls. Er suchte nach den Zwingen, setzte zwei Keile darunter, achtete darauf, dass sie nicht festklebten, und schraubte sie dann mit dem richtigen Druck an. Er wischte sich den Schweiß ab und dachte nach.
    Abermals betrachtete er sein Werk: Ein wenig Leim war auf die Decke geflossen; er durfte nicht riskieren, dass er eintrocknete. Also erhitzte er Wasser, tauchte einen feinen Pinsel ein und reinigte jene Stelle der Decke mit aller Sorgfalt. Jetzt musste er nur noch abwarten. Diese heikle Arbeit hatte ihm ziemlich viel Zeit gekostet, und er wusste, dass der Leim nun mindestens vier Stunden benötigte, um ausreichend zu trocknen, vor allem bei dieser feuchten Witterung.
    Der Kapo schlief. Daniel wagte es nicht, ihn zu wecken, aus Furcht, Prügel abzubekommen, gerade jetzt, wo der Beneidenswerte gut eingehüllt in seinem Wollmantel ruhte. Er durfte ihn nicht aufwecken oder gar daran denken, die Werkstatt zu verlassen, sonst wäre seine schemenhafte Gestalt mit Sicherheit Zielscheibe für das Maschinengewehr eines Wachpostens. Um sich angesichts der schlechten Nacht, die ihm bevorstand, zu trösten, dachte er für einen kurzen Moment: Ich werde die Geige bewachen, damit ihr nichts passiert, denn es steht für mich zu viel auf dem Spiel!
    Als ihn abermals großer Hunger zu quälen begann, bemerkte er, dass dem Aufseher ein Stück Apfel auf den Boden gefallen war. Geräuschlos rieb er es mit einem Tuch sauber und verschlang es gierig. Er nahm sich vor zu schlafen oder sich wenigstens auszuruhen; er wärmte sich die Hände an dem Kocher, bevor er ihn ausmachte, und legte sich dann auf den Boden, an eine Stelle, wo ihn die Hobelspäne ein bisschen schützten. Er versuchte zu schlafen, wurde aber immer wieder wach. Es regnete nicht, die Nacht war kalt und einsam, seine Träume unruhig; mit geringer Überzeugung murmelte er ein Gebet und bat den schweigenden Gott darum, dass seine Arbeit gutgeheißen werden möge. Er wachte früh auf und setzte sich, um nicht mehr einzunicken, auf einen Holzstoß, denn er wollte weder zum Appell zu spät kommen noch auf das Frühstück verzichten müssen. Heute war er nicht mit dem Duschen an der Reihe, also wusch er sich mit ein wenig Wasser aus der Schüssel und trat, sobald die Sirene schrillte, ins Freie.
    Als er wieder in die Tischlerei zurückkehrte, zeigte er dem Tagesaufseher das Papier vom Vorabend, doch dieser musste schon Anweisungen erhalten haben.
    »An die Arbeit, rasch«, herrschte
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