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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Autoren: Franz Werfel
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höheren freigelegenen Punkt ersteigen und aus meinem Rock eine Fahne machen. Dieser Versuch ist praktisch wertlos. Gabriel gaukelte sich damit nur etwas vor. Es treibt ihn einfach hinauf und nicht hinunter. Jetzt denkt er selbstverständlich noch: Wovon werde ich leben? Er greift in die Taschen seines Überrocks. Drei Weißbrötchen und zwei Tafeln Schokolade, das ist alles. In den Taschen des Leibrocks findet er nichts Rechtes, die Karte des Damlajik, ein paar alte Briefe und Aufzeichnungen, eine leere Zigarettenschachtel und dann die Münze des Agha Rifaat Bereket mit der griechischen Aufschrift. Er hält das dünne goldene Ding in der Hand. Plötzlich erinnert er sich, daß er damals vor dem großen Aufbruch noch einmal in die Villa zurückgekehrt war, um die Münze zu holen. Hätte ers doch lieber nicht getan! Jetzt ist es ihm, als müsse er das böse Amulett im letzten Augenblick noch von sich werfen. Er tut es nicht, sondern steckt die Münze wieder ein, der Inschrift gedenkend. So gesund, so kraftvoll wie in dieser Stunde hat sich Bagradian nicht einmal in den ersten Tagen der Verteidigung gefühlt. Jede Spur von Müdigkeit ist aus den Beinen verschwunden, die Knie schwingen übermütig, das Herz kommt nicht ins Klopfen und ehe er noch weiß wie, ist der freie Punkt erreicht, der schon hoch über dem Meere liegt. Gabriel tritt auf den Felsvorsprung, um den Mantel in weiten Kreisen über dem Kopf zu schwenken. Kaum aber hat er damit begonnen, läßt er die Arme wieder sinken. Und er weiß zugleich das erstemal mit blitzhafter Klarheit, daß er ja gar nicht von den Schiffen gesehen werden will , daß seine Lage kein unheilvoller Zufall ist, sondern eine tiefe Entscheidung, die nicht nur Gott allein getroffen hat, sondern auch er selbst. Wie ist das? Keine Spur von Sinn- und Gefühlsverrückung kann er in sich finden. Sein Geist ist ebenso klar, wie sein Gemüt ruhig ist. Ihm scheint es sogar, daß eine lange, dumpfe Betäubung jetzt erst von ihm weicht. Alles in ihm will ins Reine kommen mit einer bisher unbekannten Bewußtseinskraft.
    Er verläßt den Meeresausblick. Seine für sich selbst leicht gewordene Gestalt wandert mit großen Schritten den holprigen Steig aufwärts, der nichts andres ist als ein ausgetretener, durch Steine und Holzstücke kenntlich gemachter Zickzack zwischen Felswänden, Wasserrinnen und Schluchten. Doch die Klarheit in Gabriel ist auch im Sinnlichen so groß, daß er weder auf die Merkzeichen des Weges noch auf die Gefahren achten muß. Er weiß, daß er in diesem Lebenszustand sich nicht versteigen noch abstürzen kann. Gleichmäßig wie sein Puls arbeitet seine Erkenntnis. Es ist die Rechenschaft des Stolzes, die er sich auf diesem Wegabschnitt gibt. Darum also war er heute morgen, als das Wunder vom Meere donnerte, beinahe enttäuscht. Darum also erfüllte ihn die Mitteilung der Exzellenz, man werde das Volk vom Musa Dagh und somit auch ihn in Alexandria oder Port Said ans Land setzen, mit schwer begreiflichem Unbehagen. In diesem Unbehagen schon keimte der große Wille dieser Stunde. Im ersten Augenblick der allgemeinen Rettung hatte ihn sofort die Ahnung angewandelt, daß es für ihn diese Rückkehr ins Leben nicht gebe, schon deshalb, weil der wahre Gabriel Bagradian, wie er in diesen vierzig Tagen entstanden ist, wirklich gerettet werden mußte. Nach Port Said oder Alexandria? In irgend ein Barackenlager für armenische Flüchtlinge? Den Musa Dagh mit einem engeren und niedrigeren Pferch vertauschen? Von der Höhe der Entscheidung in die Sklaverei hinabsteigen, um auf neue Gnade zu warten? Warum? Ein altes Wort Bedros Hekims klingt auf: Armenier sein ist eine Unmöglichkeit. Sehr wahr! Die Unmöglichkeiten sind aber für Gabriel Bagradian abgetan. Mit unbeschreiblicher Sicherheit erfüllt ihn das Einzig-Mögliche. Er hat das Schicksal seines Blutes geteilt. Er hat den Kampf seines Heimatvolkes geführt. Ist aber der neue Gabriel nicht mehr als Blut? Ist der neue Gabriel nicht mehr als ein Armenier? Früher hat er sich zu Unrecht als »abstrakter Mensch« als »Mensch an sich« gefühlt. Er mußte zuerst durch jenen Pferch der Gemeinschaft hindurch, um es wahrhaft zu werden. Das ist es, darum fühlt er sich so unermeßlich frei. Kosmische Einsiedelei. Die Sehnsucht dieses Morgens. Nun ist sie gefunden, wie von keinem Sterblichen noch. Jeder Atemzug schwelgt in der trunkensten Unabhängigkeit. Die Schiffe entfernen sich und Gabriel bleibt zurück auf diesem Felshang des Musa
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