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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Autoren: Franz Werfel
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müssen. Doch bald hatte er dafür Juliettens sonderbares Papageiengeplapper im Ohr und dann ihren Aufschrei: Kümmre dich um Stephan! Immer schneller schritt er aus, in tiefen Gedanken, die ihrer nicht bewußt waren. Endlich blieb er verwundert stehn, so weit war er schon den Berg emporgeraten. Dies aber schien ein guter Ort zu sein. Ein natürlicher Felssitz, von Arbutus und Myrten überdacht, mit einer moosigen Lehne. An diesem guten Ort ließ er sich nieder. Er konnte von hier alles genau betrachten, das Gewimmel bei den Klippen unten und die fünf blaugrauen Schiffe, regungslos erstarrt in der dicken Schmelzflut. Der Transportdampfer lag am weitesten draußen. Der ›Guichen‹ mit Iskuhi am nächsten. Das Fischereifloß des Pastors war mit festen Schiffstauen an die Klippen befestigt worden. Die Matrosen hatten einen schmalen Laufsteg drüber hin gelegt. Die Geretteten balancierten einer hinter dem andern über dieses lange Brett, um zu den Booten zu gelangen. Manchmal geriet die ganze Vorrichtung ins Schwanken, das Wasser spritzte auf und die Frauen kreischten. Dieses Bild verscheuchte alles andre. Das Gewimmel nahm noch immer nicht ab. Ich habe sehr, sehr viel Zeit, dachte Gabriel. Dies aber hätte er nicht denken dürfen, ja er hätte sich an diesem guten Orte ebensowenig niederlassen dürfen wie ein Halberfrorner im Schnee. Das Bild der Einschiffung schwankte einförmig. Und Gott sandte einen mächtigen Schlaf über Gabriel Bagradian. Dieser Schlaf war bereitet aus allen Strapazen, aus allen durchwachten Nächten der vierzig Tage. Gegen ihn gab es keinen Willen und keine Kraft mehr.
    Eine Mutter sagt am Abend von ihrem Kindchen, das kaum die Augen offen halten kann: Es hat Schlaf. Gabriel Bagradian hatte Schlaf, nein, er hatte Tod.

Siebentes Kapitel Dem Unerklärlichen in uns und über uns
    Fünf Schiffsirenen heulen auf. In verschiedenen Tonlagen durcheinander, kurz, drohend, hohl. Gabriel Bagradian öffnet ruhig die Augen. Sein Blick sucht das schwankende Bild, das er soeben verlassen zu haben glaubt. Die belebtere Brandung umhüpft die menschenleeren Klippen. Das Floß schwimmt auseinander. Der ›Guichen‹ hat schon beigedreht. Sein Bug, nach Südwest gerichtet, schneidet tief ins Meer. Die andern Schiffe des Geschwaders ziehen ihm voraus. Wie schwerfällige und doch anmutig zielbewußte Tänzer suchen sie eine formvollendete Figur zu bilden. Die ›Jeanne d’Arc‹ manövriert sich langsam in den Kern dieser Figur. Gabriel beobachtet dies mit aufmerksamen Augen. Dann erst denkt er: Und Ter Haigasun? Hat er nichts bemerkt? Nein! Er glaubt mich ja auf der ›Jeanne d’Arc‹. Jetzt springt Gabriel auf und beginnt zu rufen und mit den Armen zu kreisen. Doch seine Stimme trägt nicht und seine Bewegungen sind nicht die eines Verzweifelten. Die Sonne trifft zur Frist den Vorsprung des Ras el Chansir, und die Steilwände des Musa Dagh liegen im tiefen Schatten. Bei einiger Vernunft müßte Bagradian daher zu den Klippen hinabfliegen, die äußerste erklettern und sich mit allen Mitteln bemerkbar zu machen suchen. Das Deck des ›Guichen‹ ist voll von Armeniern, die über die Reling hängen und Abschied nehmen von dem Berg ihres Lebens, der ihnen jetzt mit verfinsterter Miene wie ein enttäuschter Mörder nachzublicken scheint. Wenn auch das Meer laut atmet und die Schraube pocht, irgend jemand auf Deck oder in den Beobachtungs-Türmen würde Gabriel Bagradian schon bemerken. Der Unglückselige aber verläßt nicht nur seinen schattigen Platz nicht, er stellt sogar das Winken und Rufen ein, als habe er solche zwecklose Förmlichkeit satt. Und wirklich, Gabriel ist tief erstaunt über die Ruhe, die ihn erfüllt. Ein Mensch in dieser Lage müßte doch wie ein Wahnsinniger um Hilfe rufen, er müßte sich ins Wasser werfen, nachschwimmen, aufgefischt werden oder ertrinken, gleichviel. So langsam ziehen die Schiffe. Noch ist es Zeit.
    Gabriel versteht seine eigene Ruhe nicht. Lähmt der Schlaf noch immer sein Blut? Die Feldflasche, von den Franzosen mit schwarzem Kaffee und Kognak gefüllt, liegt neben dem guten Ort, wo er saß. Er will seine eigne Verzweiflung wecken und trinkt deshalb in vollen Zügen. Die Labung bewirkt das Gegenteil. Das Blut kommt zwar in Zug, die Muskeln spielen, doch die Ruhe verwandelt sich keineswegs in Notschrei und Todesangst. Sie nimmt nur eine aktivere Form an. Sie wird zu freudiger Getrostheit. Der irdische, der materielle Mensch schämt sich ihrer zunächst. Ich werde einen
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