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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen
Autoren: Berndt Schulz
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tanzte zu seinem eigenen Gesang. Wie hieß das Märchen von der gezeichneten Frau, die alle Fragen beantworten konnte? Es fiel ihm nicht ein. Auch der Dichter fiel ihm nicht ein, der gleich hier um die Ecke gewohnt hatte. Vielleicht sogar im Kloster. Als er sich wieder dem Bildrelief zuwandte, übersah er die große Hand, die auf ihn zuflog. Er spürte den Schlag auf seiner Wange wie etwas Böses und Gemeines. Er vernahm das Klatschen, noch immer betäubt. Er schaute auf die steinerne Figur, sie hatte sich nicht gerührt. Der Vater herrschte ihn mit mühsam unterdrückter Stimme an. Er hasste seinen Vater einen heißen, intensiven Moment lang, er wünschte ihm Verletzungen. Natürlich war das hier eine Kirche. Aber Martins Blick war vom Lachen dieses Vertrauen erweckenden Abtes wie verzaubert worden. Wo Lachen war, da war auch Tanz. Aber der Vater sah das nicht so. Er war ein selbstgerechter Mensch. Martin rieb sich ausgiebig die Wange, um seinen Widerstand zu betäuben und nichts zu tun, was seinen Vater erneut erbost hätte. Er hörte der Strafpredigt zu, die sich über ihn ergoss.
    »Ja«, sagte er mit verschlossenem Gesicht.
    »Komm jetzt endlich! Immer musst du herumzappeln wie ein Sechsjähriger. Das Konzert fängt gleich an! Großvater sitzt schon!«
    »Wie das Goldfischchen wiederkehrt und von dem blonden Ameleychen und den Kindern im Wasserschloss des alten Rheins erzählt, so heißt es«, flüsterte Großvater Martin, als Martin neben ihm saß.
    »Ja«, flüsterte Martin. »Ich hab’ es vergessen.«
    »Und der Dichter heißt Clemens von Brentano, das kannst du dir merken.«
    »Ja«, sagte Martin. »Leicht. Ich bin ja nicht elf.«
    »Und die Frau heißt Loreley«, flüsterte der Großvater. »Und sie beantwortet alle sieben Fragen auf einmal, und jede Antwort gibt sie dreimal.«
    »Warum?«
    »Seid beide ruhig! Sie fangen an«, knurrte der Vater.
    Großvater, der wegen seiner Krankheit wie immer nach Balsam Acht roch, legte die Hand auf seine rissigen Lippen und schmunzelte.
    »Jetzt sitz einfach mal still«, brummte der Vater.
    Martins Blicke wanderten über die Bühne mit den Musikern, seitlich dahinter musste der lachende Abt stehen, er sah ihn jetzt aber nicht mehr, auch wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, eine dicke Basstuba verdeckte ihm die Sicht. Vater drückte ihn auf seinen Sitz zurück. Seine Blicke flogen über die wenigen Zuschauerreihen vor ihm, die dicht besetzt waren, er war von den unterschiedlichen Landschaften der Frisuren und Scheitel beeindruckt. Er sah auch, dass zur Linken, dort wo eine Treppe hinaufführte, ein paar Männer standen, die aufgeregt tuschelten. Gleich würden sie vom Vater eine Ohrfeige kriegen! Polizisten sind eben so, hatte ihm der Großvater erklärt, der selbst einer gewesen war, sie gestatten dir nur zu reden, wenn du gefragt wirst. Martin war froh, dass er nicht Polizist werden musste. Er wollte tanzen. Und sonst gar nichts.
    Die tuschelnden Männer stiegen jetzt die Treppe hoch, oben blieben sie auf dem Podest stehen, wo sich die Pforte mit dem halbrunden Türsturz befand. Sie schienen aufgeregt zu sein. Hatte das mit der Musik zu tun? Eher mit den geöffneten Gräbern, die er überall gesehen hatte. Sie suchten etwas, das war Martin klar.
    In diesem Moment brandete Beifall auf. Der Dirigiert dieses riesigen Orchesters, das an den Seitenrändern vom Podest herunterzustürzen drohte wie eine Familie Pinguine, betrat die Bühne. Er verneigte sich, und Martin tat es ihm im Geiste nach. Dann wendete er sich dem Orchester zu und Martin hob heimlich den Dirigentenstab. Ein Stab wie ein Strich. Der sauste durch die Luft, zerschnitt das Bild, das Martin sah, und in der Furche, die die beiden Hälften trennte, entstanden Klänge, wie ein Donner, der auf den Blitz folgt. Drei Donnertöne, dem ein lang gezogener, tieferer Ton folgte. Dann das Ganze noch einmal. Dann tobte das ganze Orchester.
    Martin begriff allmählich, dass einige Besucher lieber bei der Gruppe der Männer oben auf der Treppe sein wollten. Sie konnten es einfach nicht vermeiden hinüberzuschauen, so wie er, manche verdrehten geradezu die Hälse. Sie tuschelten. Etwas ging hier vor. Er musste Großvater fragen, sah diesen auch an. Aber der legte erneut einen Finger auf den Mund. Der Vater räusperte sich.
    Die sieben Bogengänge führen zu sieben reinen, goldnen Türen, die sieben Treppen dann berühren.
    Martin ließ sich von den Bildern, der Musik und dem Anblick der mächtigen Kirchenmauern, die
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