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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen
Autoren: Berndt Schulz
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er außerhalb der Dienstzeiten manchmal mit seinen beiden kleinen Töchtern spielte. Aber heute, in dieser Anspannung, wollte er an nichts denken, nichts stand ihm klar vor Augen.
    Hinter ihnen, unter ihnen lag jetzt die Basis der Basilika. Auf halber Höhe des Aufgangs zum Dormitorium der Mönche blieben sie stehen. Noch einmal drei Stufen, dann lag zur Rechten die Höhlung der ehemaligen Äbte, ein sakraler Raum, aber einem archaischen Versteck aus der Zeit der Märtyrer ähnelnd. Direkt gegenüber, linker Hand, war der Ort. Eine Nische mit einer kleinen Fensteröffnung, die sich in die dicken Mauern einschmiegte. Dort war der dunkle Fleck aufgetaucht, hinter einem Türgitter mit einem schlichten Altaraufsatz. Bei der Suche nach Fundamentproben aus der Gründungszeit des Klosters war ein Archäologe darauf gestoßen und sofort und unangemeldet in Rosenthals Arbeitsraum gestürmt, um es zu melden. Er hatte den Teppich aus der Zeit der letzten Äbte mit Erde beschmutzt. Man hatte die Ränder eines Tumbendeckels herausgekratzt, ein zwei mal ein Meter großes Grab. Niemand wusste, wer hier begraben lag. Dieses Grab, sagte sich Rosenthal immer wieder, durfte es nicht geben. Und jeder, der den Fleck bisher zu Gesicht bekommen hatte, teilte seine Meinung.
    Die Männer blickten sich an, jeder suchte im Blick des anderen etwas Beruhigendes.
    Der Leiter der Klosterverwaltung seufzte. »Ich denke«, sagte er, »wir sollten beginnen. Wenn es sich tatsächlich um eine Grablege handelt, sollten wir wissen, wer hier seinen letzten Frieden suchte.«
    Es hallte bis in den dunklen, schweigenden Raum des Dormitoriums, als die Arbeiter damit begannen, den Deckel des mysteriösen Grabes zu bearbeiten, um ihn zu lösen.
    »Vorsichtiger! Wir müssen vorsichtiger sein, sonst beschädigen wir ihn!«
    Sie träufelten Wasser ringsum auf die Grabkanten. Die Abmessungen traten auf dem feuchten Stein deutlich hervor. Sie wischten mit Tüchern darüber.
    Als der Deckel vom Schutt befreit worden war, die Reste alten Staubes fortgefegt und allmählich Ornamente und Bilder des Grabdeckels erkennbar wurden, beugten sich die Archäologen darüber. Einer schüttelte den Kopf. Alles war klar zu erkennen, das war nicht das Problem. Nur konnte sich niemand einen Reim darauf machen. Die Maurer traten in die zweite Reihe zurück, die Wissenschaftler setzten ihre Pinsel an, immer feinere, um die Einzelheiten aus dem Untergrund herauszulösen. Der Eindruck blieb. Eine solche Schrift, solche Namen und solche Hinweise auf einen Lebenden hatte bisher noch niemand gesehen.
    Sie standen um das Grab herum und wussten nicht, was sie tun sollten.
    Wenn man den schweren Deckel jetzt lüftete, das Grab öffnete, konnte alles Mögliche passieren. Jeder der beteiligten Männer im ehemaligen Tresorraum des Klosters hatte dazu seine eigenen Bilder im Kopf.
    »Sollten wir nicht doch die Behörden benachrichtigen?«, fragte der Sekretär der Verwaltung.
    »Wir als Kloster entscheiden, was zu tun ist«, erwiderte Rosenthal.
    »Und wie machen wir es?«
    »Wir graben das Grab aus. Ganz einfach.«
    »Ganz einfach, meinen Sie, Herr Verwalter?«
    Rosenthal bemerkte das Lauernde im Tonfall des Sekretärs, ging aber darüber hinweg. Er seufzte noch einmal, dieser Laut war ein oft zu hörender, unbewusster Teil seines milden, sentimentalen Wesens, denn er war am romantischen Rhein geboren, dem Land der Sagen und Märchen. Er bat darum, dass die Arbeiter noch einmal ihre Werkzeuge ansetzten.
    Die Männer in den blauen Arbeitsanzügen gingen ans Werk. Beinahe wirkte es wie Wut, was sie antrieb, aber der Leiter der Klosterverwaltung konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es eher eine wohlbegründete Angst war. Er verstand das. Noch am gestrigen Abend hatte er selbst auf einer Zusammenkunft gesagt: »Lassen wir diesen schwarzen Kasten lieber geschlossen, es ist besser so. Wer weiß, was sonst entweicht.«
    Die Arbeiter würden nun den schwarzen Kasten öffnen. Und sie konnten nicht wissen, was daraus entwich. Sie wollten es einfach nur hinter sich bringen.

    Der Junge stand im Chorraum vor der Figur, die lachte. Warum hatten sich alle davor erschreckt, wie sein Großvater erzählte, als er ihm das Märchen vorgelesen hatte? Der Lachende war jugendlich, schlank, harmlos. Martin stellte sich so in Positur, dass er die Haltung des Abtes nachäffte. Dann lachte er. Er bewegte seine Hüften und begann, im Kreis herumzuspringen, allmählich gingen seine Bewegungen in Tanz über. Er
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