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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen
Autoren: Berndt Schulz
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Lappen, der zusammengerollt in einem Kasten steckte, aus dem die Edelsteine längst herausgebrochen waren, mit spitzen Fingern aus einem Haufen. »Das hier«, sagte er mit schiefem Lächeln, »ist es, eine richtige Reliquie, siehst du, Reichskanzler!« Oxenstierna riss es ihm aus der Hand. Entfaltete es. Las es. Nur den Tod, dachte er. Nur den Tod!

ENDE SEPTEMBER 1961
    Über dem Gelände von Kloster Eberbach lag der feine Dunst des Frühherbstes. Die Ernte am Steinberg war eingeholt, der junge Wein von den Rebstöcken, die zum Rhein abfielen, schon in der Kelter. Alles war an seinem Platz. Doch manchmal bleiben Überreste.
    Rosenthal blickte skeptisch auf die Gestalten in der mächtigen Basilika am südlichen Rand des Klausurbereichs. Hätte man das morgige Konzert nicht absagen müssen? Angesichts des Fundes schien es ihm ratsam, die Pforten für die Öffentlichkeit zu schließen, wenigstens solange, bis sich alles aufgeklärt hatte. Denn auf einen solchen Vorfall wartete die Presse mit Heißhunger. Und die Feinde des Klosters ebenso. Rosenthal wusste, wie viele Bestrebungen es gab, diesen Ort zu schließen, ihn ein für allemal zu versiegeln, erst am Morgen hatte er einen Brief von der hessischen Staatskanzlei erhalten. Er wusste auch, dass die Begründung dafür vorgeschoben war, nein, es ging nicht wirklich darum, dass die Grunderneuerung schon bis zum heutigen Tag so viel Geld verschlungen hatte und immer noch mehr verschlang. Es gab andere Gründe. Aber darüber wollte niemand sprechen.
    Und das in einem Moment des Glücks, der hochfliegenden Pläne!
    Rosenthal, der Leiter der Klosterverwaltung, klärte die Einzelheiten mit dem Archäologen von der Denkmalakademie. Drei ehrenamtliche Experten aus der Region für die Vorgeschichte des Klosters vervollständigten die kleine Gruppe. Rosenthal bemerkte wohl, wie sehr sie hinter der steifen Miene von Pflichtmenschen versuchten, gelassen zu erscheinen, aber das gelang ihnen nicht. Sie sprachen leise, wie unter Vorbehalt, jemand lächelte, aber die Anspannung stand ihnen in die Gesichter geschrieben.
    Zur Linken erschienen jetzt drei Arbeiter mit den Werkzeugen. Der Leiter der Klosterverwaltung gab ein Zeichen hinüber, man würde sich gleich darauf den Männern anschließen. Als sie sich in Bewegung setzten, ahnten alle und Rosenthal wusste es, dass ihre Protokolle der Vergangenheit neu geschrieben werden mussten.
    Die jetzt achtköpfige Gruppe durchquerte, von der Klostergasse kommend, einen Seitenflügel der Kirche. Hier wurden Bodengräber restauriert. Verstreut über die großflächigen Mosaike des Fußbodens lagen aufgelassene Grabdeckel. In einem Grab hatten die Archäologen einen zweiten Grabdeckel unter dem ersten gefunden. Etwas sehr seltenes. Und sehr schönes. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Fund der vergangenen Nacht.
    Die Männer wichen den Grabstellen aus, die unter Zeitdruck gerade wieder geschlossen wurden, um die Stuhlreihen für das Konzert aufzustellen. Sie durchquerten das Seitenschiff der Basilika, warfen nur flüchtige Blicke auf die Arbeiten in den Arkadenbögen, auch dort bewahrte man nun endlich das Erbe dieses einzigartigen Ortes. Das waren Bildwerke ihrer Zeit, darunter jenes Hochgrab an der Ostflanke des Kapellenschiffes. Sockel und Umrahmung gehörten zum Baldachingrab des Mainzer Erzbischofs Gerlach von Nassau, des Abts, der lachte. Warum hatte sein Lachen auf die Zeitgenossen so verstörend gewirkt?
    Aber auch diese Gestalt, die hervortrat, als wäre der Zeitpunkt geeignet für Rätsel, war nichts im Vergleich zu dem Toten, der unter einem Tumbendeckel begraben lag, den die Männer jetzt lüften wollten. Der Fund hatte sie geblendet. Im Tresorraum, der der ehemaligen Wohnung der letzten Äbte gegenüberlag, durfte es ein solches Grab eigentlich nicht geben. Auf keinem Plan, in keiner Chronik war es vermerkt. Niemand, auch nicht die Experten für die Geschichte des Zisterzienser-Ordens, nicht die Fachleute für dieses Kloster, hatten es in Erwägung gezogen.
    Jetzt sahen sie es. Ein Zufall hatte mit dem Zeigefinger darauf gedeutet. Es war so, als träte es allmählich, von einem unbekannten Totengräber von Erde befreit, immer deutlicher zu Tage.
    Die Männer gingen schweigend die Steinstufen zum Dormitorium der Mönche empor. Der Klosterverwalter kannte hier jede der fünfzehn Stufen und überhaupt jeden Stein, er hätte mit geschlossenen Augen laufen und jede Einzelheit im Geist vor sich hinsagen können. Es war ein Spiel, das
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