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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen
Autoren: Berndt Schulz
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Velsmann hatte sich verarzten lassen, aber den Abtransport ins Krankenhaus verweigert. Er wollte bei seinem Sohn sein, der bleich und stumm im Wohnzimmer der Nachbarin, Frau Chaplet, saß. Die kochte gerade zum fünften Mal Kaffee für alle Anwesenden.
    Tibor hatte Schmerztabletten schlucken müssen. Was in der Spritze war, die ihm der Notarzt verabreicht hatte, konnte Velsmann nur vermuten.
    »Ich kann nicht aufstehen«, sagte Tibor leise. »Ich verstehe das alles nicht.«
    Velsmann nickte. Seinen Arm um den Sohn geschlungen, saß er da und starrte auf die Beamten, die ihn vernommen hatten. Er wollte keinem von ihnen trauen.
    Velsmann hatte noch die Helligkeit der Blitze im Kopf, er roch die Rauchschwaden, sah die Flammen, die alles im Raum verbrannten. Sennsler, den eine der Blitzgranaten mitten ins Gesicht getroffen hatte, war buchstäblich in Flammen aufgegangen und tot. Jane Porethes Zustand war kritisch. Auch das corpus delicti war verbrannt bis auf zwei Aschehäufchen. Der Mann mit der Sonnenbrille hatte fliehen können.
    Was kümmert es mich, dachte Martin Velsmann. Wenn es Gerechtigkeit gibt, fangen wir ihn eines Tages. Oder er wird ohne Aufhebens aus dem Weg geräumt wie andere vor ihm.
    Er war unschlüssig. Sollte er hierbleiben und zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen? Oder ging es jetzt nicht eher darum, sich um die Schäden in seinem eigenen Leben zu kümmern? Musste er sich nicht endlich vorbehaltlos in sein privates Getümmel stürzen? Ein wenig zerschlagen erhob er sich, in seinem Körper steckten gleich mehrere Schmerzen.
    »Komm«, sagte er zu Tibor. »Wir fahren.«
    Der Junge ließ sich aufhelfen. Velsmann wies besorgte Sanitäterhände zurück. Er wies auch Beamte zurück, einer von ihnen wollte mit einem »Aber Sie können doch nicht   …« bei ihm landen. Velsmann stieß ihm die Hände vor die Brust.
    »Kommen sie meinem Sohn nicht zu nahe«, knurrte er.
    »Aber hören Sie mal, Sie wissen doch   –«
    »Das ist nicht euer Fall. Es ist mein Fall. Macht ihr in euren Kellern weiter.«
    Velsmann lotste Tibor in den Octavia. Er musste ihn eigenhändig anschnallen. Dann fuhr er los.
    Es ging nach Norden. Das war unsinnig. Aber was machte das schon? Alles andere war ebenso unsinnig. Was konnte man sinnvolles tun in einer Welt, die den anderen gehörte?
    »Wohin fahren wir, Papa?«
    Velsmann war glücklich über Tibors Stimme.
    »Nirgendwohin. Wir kommen jedenfalls nirgendwo an, wo sie sind, das verspreche ich dir.«
    Er wusste, dass er log.
    »Ich verstehe nicht wirklich, wer sie sind«, sagte Tibor und stöhnte leise. »Ich habe nicht geglaubt, dass deren Welt dieselbe ist, in der ich lebe.«
    Velsmann zerrissen diese Worte das Herz.
    Das genau war es. Es war ihm nicht gelungen, seinen Liebsten einen Raum im Dasein einzurichten, in dem sie sicher waren. Diese Einsicht war gnadenlos. Und sie hatte ihn unversöhnlich gemacht auch gegen die Beamten, die ihm im Haus Porethes geholfen hatten. Es war ungerecht. Aber er dachte: Sie stecken alle unter einer Decke. Und jetzt beschädigen sie mein Leben. Nein, nicht erst jetzt. Sie haben es immer getan.
    Sie sind da. Und sie werden immer da sein. Egal, ob wir einen von ihnen festnageln oder nicht.
    Sein Handy schlug an.
    »Ja?«
    Es war Andrea. »Wo bist du!? Was ist mit Tibor!? Man sagt mir, ihr seid losgefahren!«
    »Wir sind unterwegs. Mach dir keine Sorgen. Es geht uns beiden gut.«
    »Das stimmt doch nicht! Breitenbach hat mir alles erzählt! Bitte kommt nach Hause!«
    »Wir sind unterwegs, Andrea. Wir kommen nach Hause. Aber es gibt Momente, wo man Umwege in Kauf nehmen muss.«
    »Bitte rede nicht so, Martin! Nicht so! Komm einfach nach Hause!«
    »Ich weiß, was ich tue. Ich gebe alles auf, glaub mir. Jetzt gibt es nur noch uns, dich, die Kinder, mich. Alles andere zählt nicht.«
    »Du kannst den Teufelskreis nicht verlassen.«
    »Doch. Wenn ich die Grundlagen verändere. Ich steige aus allem aus. Das ist mir in den letzten Stunden klar geworden. Ich habe keine einzige Aufgabe mehr zu erfüllen, die außerhalb unserer Interessen liegt. Deiner Interessen, meiner Interessen, der Interessen unserer Kinder.«
    »Ziehen wir weg?«
    »Nein, wohin denn! Ich möchte nirgendwo anders leben als hier. Ich flüchte nicht. Ich werde nur alles mit anderen Augen sehen.«
    »Ich möchte jetzt nicht sagen: Wenn du meinst! Aber mir fällt nichts anderes ein.«
    »Glaub mir, Andrea.«
    Als die Straße zum Rhein abbog, ließ Velsmann den Wagen hinuntergleiten.
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