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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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»Weißt du«, hatte Estelle einmal zu Mary mit der Flüsterstimme gesagt, die sie immer hatte, wenn sie von ihrer Mutter sprach, »eigentlich sind Segelflugzeuge doch etwas sehr Schönes.« Mary hörte oft, auch noch, als sie eine Brille trug, daß sie ihrer Großmutter Livia in gewisser Weise ähnlich sehe. »Ich glaube«, flüsterte Estelle, »wenn du einmal groß bist, wirst du genauso ausschauen wie sie.«
    Mary gefiel das Foto ihrer Großmutter. Sie sah darauf ruhig und friedlich aus, und Mary war sicher, daß sie keine Selbstgespräche geführt hatte. Und wenn sie an ihren Segelfliegertod dachte, dann stellte sie sich nicht vor, daß sie in einen Wald oder auf ein Dorf stürzte, sondern träumte, daß das Flugzeug in den weißen Himmel aufstieg, zuerst ein Punkt, weiß auf weißem Hintergrund, der dann immer mehr mit dem Himmel verschmolz, sich auflöste und verschwand. Sie hatte sich jedoch nie vorstellen können, wie Großmutter Livia zu werden. Sie wußte, daß sie nicht schön oder Mitglied der Women’s League werden würde, was immer eine Women’s League auch war. Und vom Tag der beiden Schweigeminuten an wußte sie sogar, daß sie nicht einmal eine Frau werden würde. Sie sagte ihrer Mutter nichts davon, und natürlich erst recht nicht ihrem Vater, da sie diesem nichts mehr erzählte, seit sie drei war. Nicht einmal Miss McRae, ihrer Lehrerin, vertraute sie es an. Sie betrachtete es als ein Geheimnis. Nur Marguerite flüsterte sie es einmal ins Ohr, die daraufhin den Schnabel öffnete und krächzte.
    Nach dem Tod der Lämmer wurde es warm. Im Mai fand auf einem Feld vor dem Dorf, wo eine Reihe Kastanien Schatten spendeten, das alljährliche Gemeindefest statt. In dessen Mittelpunkt stand immer ein Wettbewerb: das beste Blumenarrangement, das am originellsten angezogene Kind, das größte Exemplar einer Gemüseart, der gehorsamste Hund, die talentiertesten Walzer- und Quicksteptänzer. Die Preise waren großzügig: ein Dutzend Flaschen Starkbier, ein Jahresabonnement für Radio Fun oder Flix , ein Sack Kohle. In diesem Jahr sollte Swaitheys schönstes Baby gefunden werden. Die Teilnahmegebühr betrug drei Pence, der Preis war unbekannt.
    Der Gedanke an den Überraschungspreis versetzte Estelles fehlerhafte Phantasie in Erregung. Das Wort »unbekannt« schien etwas von Wert zu versprechen: einen Besuch im Tower von London, ein Jacqmar-Tuch, ein Treffen mit Mr. Churchill. Sie hatte kein Baby zum Anmelden, doch wollte sie sich dieses kostbare Unbekannte nicht ganz und gar entgehen lassen. Sie kaufte einen Teilnahmeschein und ging damit zu ihrer Freundin Irene Simmonds.
    Irene lebte allein mit ihrem unehelichen Baby Pearl. Der Vater des Kindes war Ire und arbeitete in Dublin in einer Druckerei. »Er schmeckte nach Druckerschwärze«, hatte Irene Estelle erzählt. Doch sie hatte immer weniger von dem Geschmack gehabt, und schließlich war er ganz verlorengegangen – Irene bekam auf ihre Briefe keine Antwort mehr, weder gedruckter noch sonstiger Art. Sie war eine praktische Frau. Sie hatte ein großes Lächeln, einen rundlichen Körper und ein weiches Herz. Irene träumte noch lange von dem irischen Drucker, ließ es sich aber nicht anmerken. Alles, was man sah, war ihre aufopferungsvolle Liebe zu Pearl.
    Als Estelle mit dem Dreipence-Coupon kam, stillte Irene Pearl gerade. Ihre weißen Brüste waren größer als der Kopf des Babys. Sie hätte damit einen ganzen Stamm ernähren können. Pearls kleines Leben verlief in süßer, milchiger Selbstvergessenheit.
    Estelle setzte sich zu Irene und legte den Teilnahmeschein auf den Küchentisch. »Das Unbekannte«, sagte sie, »ist wahrscheinlich immer das Bessere.«
    Irene füllte den Coupon mit der sorgfältigen Handschrift aus, die sie sich angeeignet hatte, um die Zuneigung des Druckers zu gewinnen. Teilnehmer: Pearl Simmonds, geboren am 22. April 1951. Estelle nahm Pearl solange auf den Schoß und betrachtete sie, wobei sie sich vorstellte, als PreisrichterinSwaitheys schönstes Baby finden zu müssen. Pearl hatte Haare so hell wie Limonade und große blaue, glänzende Augen. Ihr Mund war so hübsch und süß wie Irenes. »Cherub, du mußt gewinnen«, sagte Estelle zu Pearl, »unsere ganze Hoffnung ruht auf dir.«
    Sonny weigerte sich, zum Fest zu gehen. Für Schnickschnack hatte er kein Geld übrig, für Verkleidungen jeglicher Art keine Zeit.
    Estelle fuhr mit Mary und Tim im Ponywagen hin. Es war ein sehr heißer Tag, ein Rekord für Mai, hieß es im Radio.
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