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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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darauf und ein riesiger alter Kleiderschrank, in dem ich meine Bonbondose, meine Fibel und meine Stiefel aufbewahrte. Auf der Dose war das Bild eines Schweizer Chalets. Zu jener Zeit waren darin zwei Unzen Zitronenbrausedrops und drei Macintosh-Karamelbonbons. Ich holte die Dose heraus und steckte mir einen Zitronenbrausedrops in den Mund. Ich dachte, das Prickeln würde mich vielleicht beleben, so daß mir etwas Kostbares einfallen würde. Das geschah jedoch nicht, und mir kam der Gedanke, daß mir nie gesagt worden war, wohin Großmutter Livia mit diesem Segelflugzeug eigentlich fliegen wollte. Wollte sie nur mal eben nach Ipswich oder aber zum Tyrrhenischen Meer?
    Am Sonntag abend – ich hatte im Nähkorb und in der Knopfkiste meiner Mutter nachgesehen, alle Ecken im Haus, wo sich etwas Wichtiges versteckt haben könnte, abgesucht, jedoch ohne Erfolg – kam ich zu dem Schluß, daß ich am nächsten Tag nicht in die Schule gehen konnte. Ich würde mich weit weg von zu Hause auf eine Wiese, die vor der zweiten Heuernte stand, setzen und über mein künftiges Leben als Junge nachdenken. Ich würde mich auf Anzeichen untersuchen. Vielleicht würde ich auch auf einen Baum klettern, wo ich außer Reichweite von allem und jedem war, auch von all den Steinen im Boden.
    Meine Mutter gab mir fürs Mittagessen Sandwiches mit Mixed Pickles und eine Thermoskanne mit Zitronenlimonade mit. Im Winter war in dieser Kanne Tee, und das Teearoma hielt sich bis zum Sommer, so daß die Limonade etwas lau und seltsam schmeckte.
    Am Ende unseres Weges wandte ich mich also nicht nach links in Richtung Swaithey und Schule, sondern nach rechts. Ich rannte, bis ich unsere Felder hinter mir gelassen hatte, dann blieb ich unter einem Wegweiser stehen und setzte mich hin. Obwohl es noch früh am Tag war, brannte die Sonne schon heiß herunter. Ich trank etwas von meiner Zitronenlimonade. Nach vielleicht fünf Minuten stand ich auf und rannte den Weg, den ich gekommen war, wieder zurück. Ich wußte jetzt, was ein kostbares Ding für mich war.
    Ich kam zu spät zum Unterricht. Es hatte unterwegs Probleme mit Irene gegeben, die gefragt hatte: »Was hast du dir da nur ausgedacht, Mary Ward? Was bist du bloß für ein Kind?«
    »Ach bitte, Irene«, hatte ich gebettelt. »Bitte!«
    Das war in Mr. Harkers Haus gewesen, wo Irene arbeitete. Mr. Harker hatte sich im Keller eine Werkstatt eingerichtet, in der er Kricketschläger herstellte. Im ganzen Haus roch es nach Holz und Öl. An seinem Gartentor hing ein gemaltes Schild, auf dem Kricketschläger Harker stand.
    »Es ist doch nur für eine halbe Stunde!« bettelte ich.
    »Nein!« sagte Irene. »Und nun lauf zur Schule!«
    Doch am Ende bekam ich sie: Pearl, mein kostbares Ding.
    Ich trug sie wie eine große Vase, beide Arme um sie gelegt.
    Miss McRae nahm die Brille ab, runzelte die Stirn und sagte: »Was um alles in der Welt, Mary... ?« Viele Kinder kicherten. Ich klappte die Tischplatte meines Pultes hoch und legte Pearl hinein, ihren Kopf auf mein Rechenbuch. Ich hörte und achtete nicht auf das Lachen um mich herum.
    Pearl sah mich an. Sie machte einen verschreckten Eindruck. Sie war bestimmt zum erstenmal in einem Pult. Ich gab ihr ein kleines Holzlineal zum Spielen, doch sie schlug sich damit auf die Nase und fing zu schreien an.
    »Du liebe Zeit!« hörte ich Miss McRae sagen. »Das ist sehrungewöhnlich, Mary. Kannst du mir bitte mal erklären, was dieses Baby in meiner Stunde soll?«
    Ich nahm Pearl auf den Arm, damit sie zu schreien aufhörte. Mein Banknachbar, Billy Bateman, lachte so sehr, daß er sich entschuldigen mußte. Ich blickte zu seinem Pult hinüber und sah, daß er ein Briefmarkenalbum mitgebracht hatte, welches so ramponiert und zerfleddert war, als stammte es aus der Arche Noah. Ich werde einmal ein interessanterer Junge werden als er, dachte ich.
    »Mary?« fragte Miss McRae.
    Ich spürte, wie mein Herz unter meiner Trikotbluse heftig klopfte. Außerdem hatte ich Durst und fühlte mich seltsam traurig. Mir war zum Weinen zumute, was ich sonst nie tat, aber manchmal weint man ja nur äußerlich und beobachtet sich selbst dabei. So war es jetzt. Nur mein Gesicht war traurig.
    Die Sache war nämlich die, daß ich nicht wußte, was ich über Pearl sagen sollte. Ich wußte nicht, warum sie für mich so wichtig war, wenn man einmal davon absah, daß ich sie sehr schön fand und immer noch nicht verstehen konnte, warum sie aus dem Wettbewerb nicht als Siegerin hervorgegangen
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