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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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reden. Wen gibt es da?«
    »Mich. Aber nicht mehr lange. Ich werde geschlossen. Ich darf mir keinen Badeanzug kaufen...«
    »Estelle, darüber sprechen wir jetzt nicht.«
    »Warum nicht?« frage ich. »Das sollten wir aber. Wo soll ich denn hingehen, wenn ich hier weg muß?«
    »Das will ich ja von Ihnen wissen. Wen gibt es da? Wen gibt es noch in Ihrem Leben?«
    »Ich habe keine Ahnung. Mir fällt niemand ein.«
    »Timmy?« fragt sie.
    »Tim?«
    »Ja.«
    »Nun«, sage ich, »der Teil meines Lebens mit ihm findet in Shropshire statt, und da komme ich fast nie hin.«
    »Warum nicht?«
    Ich weiß nicht, wie jemand auf die Idee kommen kann, daß diese Fragerei gesund macht. Von meiner Mutter hatte ich immer gehört: »Achte darauf, daß du die Leute nicht ausfragst, Estelle. Das ist sehr unhöflich, mein Schatz.«
    »Warum nicht?« beharrt Linda.
    »Nun, Shropshire ist weit weg von Suffolk. Aber das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, daß wir früher hier im Mountview einfach sein durften. Wir sahen Fußball. Wir veranstalteten Ratespiele. Wir gingen im Garten spazieren...«
    »Wir haben jetzt nicht mehr ›früher‹«, sagt sie.
    »Ich weiß. Aber was haben wir dann? Wie ist denn das Jetzt?«
    Sie sieht einen Augenblick verwirrt aus, so wie manchmal die Teilnehmer der Question Time . Dann meint sie: »Ein neues Jahrzehnt ist angebrochen.«
    Ich versuche alles Neue aufzuzählen.
    Die USA bekommen einen neuen Präsidenten. Dieser war einmal mit Jane Wyman, einer Freundin Ava Gardners, verheiratet.
    In Yorkshire, in der Umgebung von Leeds, gibt es einen neuen Mörder.
    In Algerien war wieder ein Erdbeben.
    Bei der Olympiade haben wir einen neuen Goldmedaillengewinner. Einen Schwimmer, der jünger als Timmy ist.
    Japan hat von China einen neuen Pandabären bekommen. Dieser heißt Wong-Wong. Pandabären verbessern angeblich die Beziehungen zwischen den Nationen. Die Kinder in Japan singen ein Willkommenslied: »Oh, Wong-Wong, sei gegrüßt mit diesem Song,/laßt uns in Frieden spielen...«
    Japanische Lieder brauchen keine anspruchsvollen Reime.
    In meiner nächsten Fragestunde frage ich Linda: »Was ist noch neu?«
    Sie antwortet: »Zum Gedenken an den achtzigsten Geburtstag der Königinmutter gibt es eine neue Briefmarke.«
    Ich sage: »Ich weiß noch, wie ihr Mann starb. König Georg VI. Am Tag seiner Beerdigung standen wir auf einem Kartoffelfeld und versuchten zu schweigen.«
    »Ja? Erzählen Sie mir doch davon! Wer war denn da alles dabei?«
    »Nun, wir vier. Sonny und ich. Timmy und...«
    »Und wer?«
    »Und Martin.«
    »Von Martin weiß ich gar nichts. Wer ist Martin?«
    »Mein anderes Kind. Er ist in Amerika. Er gehört nicht zu meinem Leben. Ich habe ihn zwanzig Jahre nicht gesehen.«
    »Warum?« will Linda wissen.
    »Mein Gott, Sie können einen vielleicht mit Ihrer Fragerei ermüden. Wir werden uns nicht mehr auf den Beinen halten, geschweige denn hinauslaufen können, um in die Gesellschaft zurückzukehren.«
    »Wenn Sie diese Frage beantwortet haben, können Sie gehen.«
    »Ich kenne die Antwort nicht.«
    »Dann müssen wir sie suchen, nicht wahr, Estelle?«
    »Wenn diese Befrager »wir« sagen, meinen sie »Sie«.
    Wie kann sich ein Mensch nur all das Wissen aneignen, das man braucht, um in dieser Welt zu überleben?
    Ich erhebe mich vom Stuhl und lege mich mitten im Beratungszimmer auf den Fußboden.
    Linda sagt, ich solle aufstehen. Ich sei eine der schwierigsten Personen, die sie je kennengelernt habe.
    Wenn sie »kennengelernt« sagt, meint sie »befragt«.
    Sie ist meiner überdrüssig.
    Ich bin des ganzen Lebens überdrüssig.
    Doch sie läßt mich in mein Zimmer gehen. Es ist das Zimmer, das ich hier immer hatte. Ich hänge an ihm.
    Es ist wie ein Zugabteil. Wenn ich mich darin befinde, begebe ich mich in Gedanken stets auf irgendwelche Reisen.
    Es ist zu früh zum Abendessen. Ich überlege, ob ich hinuntergehen und mir das neue Erdbeben im Fernsehen ansehen soll. Jetzt, so allein in meinem Zimmer, wünschte ich, ich wäre bei Linda.
    Ich habe gelogen, als ich sagte, daß ich, wenn ich nach dem Tod meines Vaters aus dem Fenster schaute, nichts weiter als den Garten und später die Nacht sah. Ich sah im Garten Mary. Und wenn die Nacht hereinbrach, sah ich sie immer noch. Sie erwiderte meinen Blick und warf einen Tennisball gegen die Fensterscheibe.
    Das würde ich Linda gern erzählen.
    Ich muß es ihr erzählen.
    Ich renne den Gang entlang. Ich hasse es zu rennen. Ich habe es noch nie
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