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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gemocht.
    Auf der Treppe dränge ich mich an einem Mann vorbei, der total geistesgestört ist. Den ganzen Tag über singt er: »Goodnight, Campers«. Seine Stimmbänder sind schon richtig brüchig.
    Nach Linda rufend, haste ich zum Besprechungszimmer und öffne die Tür. Dort wird gerade eine andere Frau ausgefragt. Ich rufe: »Linda, ich muß Ihnen etwas sagen!«
    »Sie haben Ihre Stunde gehabt, Estelle.«
    »Ich weiß. Ich muß Ihnen aber unbedingt noch etwas sagen. Bitte!«
    »Nein«, erwidert sie. »Das ist Marjories Stunde. Wir sehen uns morgen wieder.«
    »Morgen« habe auch ich immer gesagt. »Morgen werde ich etwas mit Mary unternehmen.«
    Ich bin fünfundfünfzig.
    Ich setze mich in meinem Zimmer an den Tisch.
    Es ist September und wird schon dunkel.
    Vor mir liegt eine der Grußkarten, die Cord und ich einmalgebastelt haben. Wir haben nie welche verschickt. Ich habe sie mit hierhergebracht, um sie an die Sherpas und Fluglotsen zu verteilen.
    Die Karte ist mit Skabiose, Mohn, Luzernen und Gras beklebt.
    Es ist viel leichter, eine Grußkarte in Gedanken als tatsächlich zu schreiben. Solange man die Mitteilung nur im Kopf hat, kann man sie immer wieder ändern. Man kann sie beliebig oft überarbeiten, ohne daß man es merkt. Sie kann metaphorischen oder phantastischen Charakter haben. Sie kann den Kern der Zwiebel oder die Explosion am Himmel zum Thema haben. Sie kann poetisch oder ironisch sein. Sie kann die Suche im Schein von Taschenlampen im Wald beschreiben, den gelungenen Zaubertrick an einem Sommernachmittag...
    Doch kaum steht die Mitteilung da, mit grüner Tinte niedergeschrieben, macht sie einen etwas lahmen, armseligen Eindruck. Sie ist durch das Schreiben verändert worden. Sie sagt eigentlich nicht das, was man sagen wollte. Sie ist nicht einmal ein richtiger Gruß.
    Ich blicke darauf.
    Ich lese sie immer wieder, bis die Worte überhaupt keine Bedeutung mehr haben.
    Lieber Martin,
    bitte verzeih mir. Ich hoffe sehr, daß Du es kannst.
    Deine Mutter Estelle
    Es wird so dunkel, daß ich sie kaum noch erkennen kann, doch ich starre weiter darauf.
    Wenigstens habe ich einigermaßen ordentlich geschrieben. Das ist schon mal was.
    Die Karte sieht nicht so aus, als habe sie eine Verrückte, sondern lediglich so, als habe sie eine Frau ohne Phantasie geschrieben.
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