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Die verratene Nacht

Die verratene Nacht

Titel: Die verratene Nacht
Autoren: Colleen Gleason , Joss Ware
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zerbrechlichen, mageren Hände ergriff, schaute sie in die graubraunen Augen der alten Frau.
    Der Wirbel aus funkelndem, grauem und blauem Nebel wurde stärker und sie wusste, etwas würde jetzt gleich passieren. „Halt meine Hand“, sagte sie und wusste gar nicht, woher die Worte kamen. „Ich werde hier sein.“
    Und so war es geschehen. Selena hatte keine Angst gehabt, war nicht einmal besonders traurig gewesen. Diese Gefühle hatte sie erst entwickelt, als sie älter wurde und zu verstehen begann, was es für die Leute bedeutete, die zurückblieben.
    Sie brauchte noch länger, um zu verstehen, was Wayren damit gemeint hatte: es wäre eine Verantwortung. Dass es etwas war, was sie benutzen musste, einsetzen musste, um den Leuten zu helfen, den Weg zwischen Leben und Tod zu finden. Sie half ihren Schmerz zu mindern – den körperlichen und, noch wichtiger, den emotionalen und spirituellen.
    Aber den wichtigsten Teil ihrer Berufung erfuhr sie erst, als sie viel älter war, als sie die Kraft des Kristalls entdeckte. Und was sie damit tun musste.
    Sie gab sich einen kleinen innerlichen Ruck und nachdem sie wieder in der Gegenwart angelangt war, griff Selena sich Theos frisch aufgefüllte Tasse und den Löffel. Nach kurzer Überlegung fügte sie dem kleinen Teller eine dicke Scheibe Brot mit Sonnenblumenkernkruste hinzu. Er sah recht hungrig aus. Als sie an dem Fenster vorbeiging, konnte sie nicht ignorieren, dass die Sonne sich tief gesenkt hatte und nun auf dem Horizont zu ruhen gekommen war, eine endlose Entfernung weit weg.
    In ein paar Stunden die Dunkelheit. Die Nacht schien in letzter Zeit so viel schneller zu kommen. Zu schnell. Und dann würde sie dort hinaus gehen müssen, in die Nacht hinein. So viele Zombies finden, wie sie konnte – oder sich von ihnen finden lassen. Selena blickte in die Ferne, hin zu dem lila-grauen, gezackten Umriss der Berge und dem matten Grün der Wälder, den schachtelartigen Umrissen von zerstörten Gebäuden, welche da und dort im Raum dazwischen verstreut waren. So friedlich. Jetzt.
    Aber schon bald...
    Ich könnte heute Nacht hier bleiben.
    Die Versuchung packte sie, wickelte sich um sie wie ein Schraubstock an ihrem Hals. Nur eine Nacht.
    Sie könnte bei ihren Patienten sitzen, sie könnte sogar einen bissig-witzigen Schlagabtausch mit dem erstaunlich-wundersamen Theo veranstalten, ihm zusehen, wie er noch mehr Suppe verschlang. Vielleicht sogar sehen, ob er ihr ein ebenbürtiger Schachgegner wäre, da niemand anders hier das sonst konnte. Versuchen herauszufinden, wie man den alten DVD-Player reparieren könnte, der letztendlich den Geist aufgegeben hatte.
    Während sie in die langen Schatten starrte und ganz automatisch nach den schwerfälligen Bewegungen der Zombies Ausschau hielt, fühlten sich Selenas Schultern verspannt an, als könnten sie bei der kleinsten Bewegung einfach auseinanderbrechen.
    Sie wusste, sie konnte sie nicht alle retten. Natürlich konnte sie nicht alle retten. Genauso wie sie auch nicht jeder sterbenden Person den Weg auf die nächste Ebene leichter machen konnte.
    Sie könnte hier bleiben.
    Aber das würde sie nicht, verdammt. Sie würde es nicht.
    Weil es ihre Gabe war. Und ihre Verantwortung.

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    ZWEI
     
    Als Theo sich durch die Träume hindurch kämpfte und seine Augen mühsam aufbekam, war es dunkel. Aber diesmal brauchte er keine Sekunde, um sich zu erinnern, wo er war.
    Ruuu-uuuthhhh. Ruthhhhhh.
    Die klagenden Schreie der Zombie-ähnlichen Ganga in der Ferne drangen durch die Stille und zuerst dachte er, sie wären ihm aus seinen Träumen nachgejagt. Das Fenster stand offen, was eine frische, nächtliche Brise über seine verschwitzte Haut gleiten ließ. Feucht und klebrig war er – wegen der Erinnerungen an Tod und Zerstörung. Jetzt genauso eindringlich und grauenerregend wie sie es in seiner Wirklichkeit vor fünfzig Jahren gewesen waren ... und in den Jahren seither. Er schloss die Augen, versuchte die Überbleibsel der Alpträume zu bannen, die sich festklammerten wie hartnäckiges Moos. Sie wollten nicht von ihm lassen.
    Sie kamen nicht jede Nacht, nicht mehr. Aber oft genug, so dass er sich wie aus einem Loch freischaufeln musste. Und in den Nächten, in denen er das nicht tun musste, wachte er auf – dankbar für eine ganze Nacht Schlaf.
    Ruuuuuuuthhhh.
    Die Haare an seinem Körper stellten sich auf, als ihm aufging, dass diese stöhnenden Monster da die echten waren, irgendwo dort draußen in der Nacht.
    Immer noch im Bett
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