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Die Vermessung der Lust (German Edition)

Die Vermessung der Lust (German Edition)

Titel: Die Vermessung der Lust (German Edition)
Autoren: Catrin Alpach
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dunklen Wald ging, ein älterer Mann mit einer jungen, zugegeben ganz hübschen Frau, die sich von ihm zum Essen hatte ausführen lassen und damit signalisiert hatte, sie finde ihn sympathisch? Was wusste sie überhaupt über ihn? Dass er unverheiratet war. Schon immer gewesen. Also entweder schwul (glaubte sie nicht) oder unansehnlich (nein, keinesfalls!) oder irgendwie seelisch-sexuell verkorkst (interessierte sich von berufswegen).
    Sie waren an Vulpius' Wagen angekommen, galant öffnete er ihr die Beifahrertür. Da passierte es. Sie stieß sich den Kopf und sagte »au«. Er sagte »oh« und legte seine Hand auf ihren Kopf. Sie blieb liegen. Und Madeleine in ihrer unbequemen Körperhaltung, mit einem Fuß schon im Wagen, der andere noch auf dem Asphalt, der Rücken gebeugt zwischen Tür und Angel, eine Hand an der Wagentür, die andere auf der Kopfstütze des Sitzes.
    Wie lange standen sie regungslos da? Eine Minute, vielleicht zwei. Dann wanderte Vulpius' Hand über das Haar in Madeleins Nacken, zog ihn nach vorne. Madeleine stieg aus dem Wagen, gehorchte der Hand, die sie zielsicher zu einem Mund dirigierte. Das war dann der erste Kuss.
    Sie hatte sich das Ragout warmgemacht und aß es in der Küche. Sie liebte die Küche, es war der gemütlichste Raum im ganzen Haus. Konrad würde, die Erfahrung sagte es ihr, bis kurz vor Beginn der Tagesschau schlafen, dann erwachen, aufstehen, ihr einen Kuss auf die Stirn geben, einen Apfel schälen und mit ihr teilen. Sie würden ihn zu den Nachrichten essen, an deren Ende Konrad wieder auf dem Sofa läge und schliefe. Sie würde den Fernseher ausmachen, eine Decke über den Schlafenden breiten und in ihr Arbeitszimmer gehen, um die Aufgaben des nächsten Tages vorzubereiten, die Tageszeitung querzulesen und später ein Buch. Gegen zehn würde sie zu Bett gehen, noch etwas lesen und dann, Punkt halb elf, das Licht löschen.
    Konrad und sie bevorzugten getrennte Schlafzimmer, schon seit sie vor dreiundzwanzig Jahren geheiratet hatten. Das Geheimnis einer glücklichen Ehe, nicht nur wenn einer der beiden Partner zu schnarchen pflegte.
    Vielleicht käme Konrad gegen neun noch einmal kurz ins Arbeitszimmer, dann würden sie eine Weile zusammensitzen, Konrad hätte zwei Gläser mit Rotwein mitgebracht. Sie erzählten sich manchmal die Erlebnisse ihrer Tage, Madeleine in Kurzform, Konrad, der meistens nichts Wichtiges erlebt hatte, sehr ausführlich und mit gewissen Ausschmückungen.
    Wie hatten sie eigentlich ihre erste Nacht verbracht? Madeleine wusste es nicht mehr genau. Nachdem Konrad sie auf dem Parkplatz geküsst hatte, waren sie zu ihm gefahren, stillschweigendes gegenseitiges Einverständnis nannte man das. Sie waren gleich in sein Schlafzimmer gegangen und hatten sich ausgezogen. Dann hockten sie fünf oder zehn Minuten nackt nebeneinander und vermieden es, sich anzuschauen. Madeleine betrachtete das großformatige Gemälde über Konrads Bett. Wäre es die glutäugige Zigeunerin oder der röhrende Hirsch gewesen, sie hätte die Wohnung sofort und wortlos verlassen. Sie hasste Kitsch in jeder Form, Pseudoromantik zählte dazu, öltriefende Exotik und Waldeinsamkeit. Aber nein, über dem Bett hing ein abstraktes Gemälde, drei Quadrate in unterschiedlichen Blautönen auf lindgrünem Grund. Das besaß etwas Beruhigendes. Nicht dass Madeleine beunruhigt gewesen wäre. Sie wusste ja, was nun kommen würde, als Konrads Hand plötzlich auf ihrem Knie lag.
    Sie wagte es nun, ihren Kopf zu ihm zu drehen und dachte: Oh. Ihr Anblick schien ihn tatsächlich erregt zu haben. Und dann passierte es halt. Ein normaler mitteleuropäischer Geschlechtsverkehr im Jahre 1988, als sich auch Männer die Haare toupierten und grundsätzlich weiße Socken in schwarzen Slippern trugen. Als am 18. März eine totale Sonnenfinsternis über den westpazifischen Raum zu beobachten war und Loriot seinen ersten Kinofilm drehte. Als Ende Juni bei einem Zugunglück in Paris sechsundfünfzig Menschen starben; ja, darüber hatten sie beim Essen geredet. Sie waren beide im Jahr zuvor in Paris gewesen, zu verschiedenen Jahreszeiten, gewiss, aber konnte man das wirklich Zufall nennen? Wie sonst. Sie hatten darüber gelacht.
    Jetzt drückte Konrad ihren Bauch vorsichtig nach hinten, seine Hand griff höher und fing sich eine von Madeleines Brüsten. Er massierte sie sanft, das war sogar fast schön. Und dann nahm er sie irgendwie. Ebenfalls sanft, zärtlich, beiläufig. Von diesem Moment an waren sie ein
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