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Die Vermessung der Lust (German Edition)

Die Vermessung der Lust (German Edition)

Titel: Die Vermessung der Lust (German Edition)
Autoren: Catrin Alpach
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hatte gestöhnt, weil sie keine Luft mehr bekam. Und weil sie daran dachte, wie sie das blutige Laken waschen sollte, ohne dass es die Mutter bemerkte. Sie schüttelte den Kopf, doch Steffen beharrte darauf, sie müsse einen Orgasmus oder wenigstens eine orgiastische Vorstufe gehabt haben.
    Ein zweites Mal wollte sie sich nicht mehr auf diese Versuchsreihe einlassen, irgendetwas sagte ihr, dass sie am Ende die Dumme war, getäuscht vom cleveren Steffen. So blieb es bis zu jenem Abend, an dem sie Vulpius ein drittes und das entscheidende Mal begegnete. Es regnete in Strömen. Sie stand unter dem Vordach des Rathauses, suchte ihren Schirm in der Tasche, fand ihn nicht, dachte an ihre schicke Hose, die vom Regen ruiniert werden würde. »Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?« Er stand direkt neben ihr, sie erschrak beinahe. Ein väterlicher Blick, nichts sonst. Sie nickte und folgte ihm in die Tiefgarage.
    Er fuhr einen Umweg, um sie trocken zu Hause abzuliefern, das fand sie süß. Er sprang aus dem Wagen, spannte den Schirm auf, als sie ausstieg, geleitete sie die paar Schritte bis zur Haustür, wartete, bis sie den Schlüssel aus der Tasche gekramt hatte, fragte dann: »Haben Sie am Wochenende schon etwas vor?«, und die Art wie er danach den Mund offen hielt, vor Überraschung, vor Entsetzen fast, sagte ihr, dass ihm die Frage unbewusst über die Lippen gekommen war. Nun ja, sie beschäftigten sich gerade in einem Proseminar mit dem Unbewussten.
    »Nein«, antwortete sie schnell, viel zu schnell. Sie wusste nicht, für was dieses Nein stand. Für die Frage an sich oder für die dahinterstehende Frage, ob sie sich mit ihm treffen wolle? Er interpretierte es so, dass sie für das Wochenende noch nichts geplant hatte und lud sie zum Essen ein. Waldschenke, 18 Uhr am Samstag. Waldschenke? Die lag versteckt im Wald, wie es schon der Name nahelegte, man musste die letzten zweihundert Meter vom Parkplatz über einen schmalen Feldweg laufen. Natürlich gab es auch eine alternative Zufahrt über die Bundesstraße, aber sie war sich sicher, er würde den Waldweg wählen. Was er auch tat.
    Es waren die merkwürdigsten zweihundert Meter Fußmarsch ihres Lebens. Sie trug einen beigen Hosenanzug, nicht sehr erotisch. Solide schwarze Halbschuhe, der Boden war von den Regentagen vorher noch aufgeweicht. Sie schwiegen. Gleich muss es passieren, dachte Madeleine, so wie sie die letzten beiden Tage nur darüber nachgedacht hatte, wie es passieren würde, wie und wo. Später im Auto? Oder schon auf dem Waldweg, hinter einem Gebüsch? In seiner Wohnung? In einem diskreten Hotelzimmer, das er spontan für sie anmietete?
    Es kam natürlich ganz anders. Sie aßen die Wildplatte für zwei Personen, selbstverständlich war sie eigentlich für mindestens drei Personen. Sie tranken sehr guten Rotwein dazu. Den Faktor Alkohol hatte Madeleine bei ihren Überlegungen nicht berücksichtigt. Er wird mit mir schlafen wollen. Ich werde mich nicht wehren. Es ist interessant, mit einem älteren Mann zu schlafen, der einem keinen Vortrag über die weibliche Libido und ihre Besonderheiten hält. Aber bitte: sachlich. Alkohol würde ihr einen Strich durch die Rechnung machen, Gier, Hemmungslosigkeit, Exzess, sie hasste das.
    Aber es passierte nichts. Sie aßen, tranken, unterhielten sich über Madeleines Studium, die prekäre Finanzsituation der Stadt, über aktuelle Politik und Kultur, sie lobten das Inventar des Lokals, beobachteten die anderen Gäste, dann zahlte Vulpius und sie gingen zurück zum Auto. Der Feldweg war notdürftig ausgeleuchtet, schummrig. Jetzt, dachte Madeleine. Nichts. Vulpius machte nicht einmal den Versuch, ihre Hand in die seine zu nehmen. Ein Kuss war meilenweit entfernt, ach was, eine andere Galaxie.
    Was sollte das alles? Älterer Mann lädt junge Frau zum Essen ein und sie tun genau das und nichts anderes? Warum? Weil er ihre Gesellschaft schätzte? Sich gerne mit ihr unterhielt? Weil er sonst niemanden hatte, mit dem er sich unterhalten konnte? Madeleine verstand das alles nicht, das machte weder bio- noch psychologisch irgendeinen Sinn.
    Sie hatte gerade das zweite Semester Psychologie erfolgreich absolviert und wusste immerhin schon, dass im Leben alles irgendwie auf Fortpflanzung hinauslief. Lust war nichts weiter als der ziemlich erfolgreiche Trick der Natur, die Spezies vor dem Aussterben zu bewahren. Jedenfalls bis Präservative und die Pille erfunden worden waren.
    Was also war mit Vulpius los, der neben ihr durch den
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