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Die verlorene Ehre der Katharina Blum

Die verlorene Ehre der Katharina Blum

Titel: Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Autoren: Heinrich Böll
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Katharina bei der Nachricht vom Tode ihrer
    Mutter nicht gerade zusammengebrochen. Es scheint fast, als wäre sie erleichtert
    gewesen. Natürlich konfrontierte Katharina Dr. Reinen mit der Ausgabe
    der ZEITUNG, in der das Tötges-Interview erwähnt und ihre Mutter zitiert
    wurde, sie teilte aber keineswegs Dr. Heines Empörung über das Interview,
    sondern meinte, diese Leute seien Mörder und Rufmörder, sie verachte das
    natürlich, aber offenbar sei es doch geradezu die Pflicht dieser Art Zeitungsleute,
    unschuldige Menschen um Ehre, Ruf und Gesundheit zu bringen. Dr. Meinen,
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    der irrigerweise eine Marxistin in ihr vermutete (wahrscheinlich hatte auch er
    die Anspielungen von Brettloh, Katharinas Geschiedenem, in der ZEITUNG
    gelesen), war ein wenig erschrocken über ihre Kühle und fragte sie, ob sie das
    – diese ZEITUNGSmasche – für ein Strukturproblem halte. Katharina wußte
    nicht, was er meinte, und schüttelte den Kopf. Sie ließ sich dann von Schwester
    Edelgard in die Leichenkammer führen, die sie gemeinsam mit Frau Woltersheim
    betrat. Katharina zog selbst das Leichentuch vom Gesicht ihrer Mutter, sagte
    »Ja«, küßte sie auf die Stirn; als sie von Schwester Edelgard aufgefordert wurde,
    ein kurzes Gebet zu sprechen, schüttelte sie den Kopf und sagte »Nein«. Sie
    zog das Tuch wieder über das Gesicht ihrer Mutter, bedankte sich bei der
    Nonne, und erst während sie die Leichenkammer verließ, fing sie an zu weinen,
    erst leise, dann heftiger, schließlich hemmungslos. Vielleicht dachte sie auch
    an ihren verstorbenen Vater, den sie als sechsjähriges Kind ebenfalls in der
    Leichenkammer eines Krankenhauses zuletzt gesehen hatte. Else Woltersheim
    fiel ein oder besser auf: daß sie Katharina noch nie hatte weinen gesehen, auch
    nicht als Kind, wenn sie in der Schule zu leiden hatte oder Milieukummer sie
    bedrückte. In sehr höflicher Weise, fast liebenswürdig bestand Katharina darauf,
    sich auch bei den ausländischen Damen Huelva und Puelco für alles zu bedanken,
    was sie für ihre Mutter getan hatten. Sie verließ das Krankenhaus gefaßt, vergaß
    auch nicht, ihren einsitzenden Bruder Kurt telegrafisch durch die Verwaltung
    des Krankenhauses verständigen zu lassen.
    So blieb sie den ganzen Nachmittag und den Abend über: gefaßt. Obwohl sie
    immer wieder die beiden Ausgaben der ZEITUNG hervorholte, die Blornas, Else
    W. und Konrad B. mit sämtlichen Details und ihrer Interpretation dieser Details
    konfrontierte, schien auch ihr Verhältnis zur ZEITUNG ein anderes geworden
    zu sein. Zeitgemäß ausgedrückt: weniger emotional, mehr analytisch. In
    diesem ihr vertrauten und freundschaftlich gesonnenen Kreis, in Erwin Kloogs
    Wohnzimmer, sprach sie auch offen über ihr Verhältnis zu Sträubleder: er habe
    sie einmal nach einem Abend bei Blornas nach Hause gebracht, sie, obwohl sie
    das strikt, fast mit Ekel abgelehnt habe, bis an die Haustür, dann sogar in ihre
    Wohnung begleitet, indem er einfach den Fuß zwischen die Tür gesetzt habe. Nun,
    er habe natürlich versucht, zudringlich zu werden, sei wohl beleidigt gewesen,
    weil sie ihn gar nicht unwiderstehlich fand, und sei schließlich – es war schon
    nach Mitternacht – gegangen. Von diesem Tag an habe er sie regelrecht verfolgt,
    sei immer wiedergekommen, habe Blumen geschickt, Briefe geschrieben, und es
    sei ihm einige Male gelungen, zu ihr in die Wohnung vorzudringen, bei dieser
    Gelegenheit habe er ihr den Ring einfach aufgedrängt. Das sei alles. Sie habe
    deshalb seine Besuche nicht zugegeben bzw. seinen Namen nicht preisgegeben,
    weil sie es für unmöglich angesehen habe, den vernehmenden Beamten zu
    erklären, daß nichts, rein gar nichts, nicht einmal ein einziger Kuß zwischen
    ihnen gewesen sei. Wer würde ihr schon glauben, daß sie einem Menschen
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    wie Sträubleder widerstehen würde, der ja nicht nur wohlhabend sei, sondern
    in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft seines unwiderstehlichen Charmes
    wegen geradezu berühmt sei, fast wie ein Filmschauspieler, und wer würde
    einer Hausangestellten wie ihr schon glauben, daß sie einem Filmschauspieler
    widerstehen würde, und nicht einmal aus moralischen, sondern aus
    Geschmacksgründen? Er habe einfach nicht den geringsten Reiz auf sie ausgeübt,
    und sie empfinde diese ganze Herrenbesuchsgeschichte als das scheußlichste
    Eindringen in eine
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