Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verfuehrung Des Ritters

Die Verfuehrung Des Ritters

Titel: Die Verfuehrung Des Ritters
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
hatte sich erst knapp zwei Meilen von London und der dort auf sie lauernden Gefahr entfernt.
    Als sie in ihrer Unterkunft in Westcheap angekommen war, hatte niemand sie erwartet. Auch nicht Eduard und Hugh, die beiden jungen Ritter, die zu ihrem Schutz zurückgeblieben waren, nachdem Gwyn die anderen nach Norden geschickt hatte, um die Belagerung abzuwehren. Im Haus war es unheimlich still gewesen. Sie war durch die verlassenen dunklen Räume gehuscht und war vor der großen Eichentruhe am Fußende ihres Betts auf die Knie gesunken.
    Kleider und Unterwäsche und Ballen feinster Stoffe waren durch die Luft geflogen, als sie verzweifelt nach der Schatulle suchte, die ihr Vater ihr auf seinem Sterbebett anvertraut hatte. Die verschlossene, mit Schnitzwerk verzierte Schatulle enthielt Liebesbriefe, die ihr Vater ihrer Mutter geschrieben hatte, als er sich auf dem Kreuzzug befand.
    Sie würde diese Schatulle auf keinen Fall zurücklassen.
    Gwyn hätte fast verzweifelt aufgeschrien, als sie eine weitere Hand voll Leibwäsche über die Schulter hinter sich warf. Durch das Fenster drang das Geräusch hämmernder Schritte herein.
    »Bitte, lieber Herr Jesus«, flehte sie leise. Tränen brannten in ihren Augen. Just in diesem Moment berührte ihre Hand eine weiche, dicke Filztasche. Sie griff danach und riss sich dabei einen Fingernagel an einem Eisenscharnier ein.
    Ein unverständlicher Ruf hallte durch das Fenster herauf.
    »Nur ein paar Türen weiter«, antwortete ihm eine Stimme.
    Schweiß rann an ihrem Leib herab. Sie erhob sich rasch und griff zuletzt nach dem einzigen Beutel Silber, der ihr geblieben war. Die Schatulle glitt aus ihrer Hand, und unzählige Pergamentrollen hüpften auf den Boden. Sie schnappte nach Luft, bückte sich und sammelte rasch die Schatulle und die Pergamente auf, befestigte die Filztasche und den Beutel an ihrem Gürtel und lief die Stufen hinunter. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie sich um. Ihr Haar löste sich aus dem Knoten, als sie verzweifelt den Kopf schüttelte und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Eduard und Hugh, die beiden Wachen, die zu ihrem Schutz zurückgeblieben waren, waren noch immer nirgends zu finden. Eines war jedoch sicher: Sie durfte keine Zeit damit vertun, nach den beiden zu suchen. Sie rannte in den Stall und sattelte Crack, der nervös tänzelte. Der Hengst gehörte Hugh, und er hatte ihn erst vor Kurzem erworben. Er würde tief betrübt sein, wenn er feststellte, dass sein Schlachtross verschwunden war.
    »Das soll ihm eine Lehre sein!«, stieß sie wütend hervor, während sie das sensible, tausend Pfund schwere Tier zu einem Steinblock führte. Sie kletterte in den Sattel und schwang ein Bein über die Kruppe. Es blieb keine Zeit, auf ihre abtrünnigen Beschützer zu warten, und erst recht nicht für solche Feinheiten, wie darauf zu achten, einen Damensattel zu benutzen. Gwyn riss
    die Zügel herum und galoppierte aus dem Stallhof. Seit ihrer Heimkehr vom Fest des Königs waren weniger als zehn Minuten vergangen.
    Wie alle anderen Stadttore war auch Aldersgate um diese Zeit längst geschlossen.
    Gwyn galoppierte darauf zu und ließ das Pferd erst langsamer gehen, als das Tor in Sicht kam. Ein saftiges Bestechungsgeld sorgte dafür, dass ihr trotz vorgerückter Stunde gestattet wurde, zu passieren. Das hieß zwar auch, dass jeder, der ihr folgte, ebenfalls die Stadt verlassen konnte, aber das war etwas, über das nachzudenken ihr keine Zeit blieb. Sie ließ das Pferd langsam durch das Tor trotten und hielt das gemächliche Tempo, bis eine Anhöhe und eine Baumgruppe sie vor Blicken schützte.
    Dann stieß sie Crack die Fersen in die Flanken und spürte den Wind, der an ihren Ohren vorbeipfiff.
    Die Herbstnacht war kühl und feucht. Dünne Nebelschleier schwebten etwa einen Fuß über dem Boden und waberten wie geisterhafte Bänder. Cracks weit ausgreifende Vorderbeine durchschlugen die Nebelbänder und ließen sie aufwirbeln, bis sie sich um Sträucher und Bäume legten. Das einzige Geräusch, das Gwyn außer Cracks Hufschlag hörte, war der Wind, der ihr in den von der Kälte geröteten Ohren sang.
    Crack stieg plötzlich, und seine Hinterhufe gruben Furchen in die Straße. Nervös schwang er den Kopf hin und her, unschlüssig, ob er stehen bleiben oder weiterlaufen sollte. Gwyn zog heftig an den Zügeln und warf ängstlich einen Blick über die Schulter. Es konnte nicht sein. Nicht so schnell.
    Hufschlag. Sie hörte ihn hinter sich auf der Straße.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher