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Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens
Autoren: Catherine Deveney
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nicht vorhergesehen hatte. Wenn man sich ein neues Leben aufbaut, denkt man, alle alten Probleme hinter sich lassen zu können. Aber man erschafft sich gleichzeitig neue Probleme. Neue Bindungen und Verpflichtungen. Neue Zwangslagen. Ein neues kompliziertes System, das an die Stelle des alten tritt. Und wenn einen dann, eines Tages, das alte Leben einholt …
    »Ich hatte so ein Gefühl…« Ich hole tief Luft, denn es ist mir ein Anliegen, ihm diese verworrenen Gedanken möglichst präzise und einleuchtend zu erklären. »Ich hatte ein Gefühl, als würde ich sterben. Innerlich starb ich. Nach und nach. Mein Sterben zog sich über Jahre hin. Meine Einsamkeit war einfach … erdrückend, ganz ehrlich. Ich war so einsam, dass ich lieber allein leben wollte, denn da fühlte ich mich weniger einsam, als wenn ich mit jemandem zusammenlebte. Aber alles war so kompliziert, ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Ich fand keinen Ausweg aus dieser ganzen verworrenen Situation, konnte die Fäden nicht entwirren, konnte sie nur kappen und mich davonstehlen. Dieser Wunsch, diese Vorstellung, dass ich einfach irgendwann weggehen würde, hielt mich am Leben. Und dann, eines Tages … fügte sich einfach eins zum anderen, alles rutschte quasi auf seinen richtigen Platz, wie die richtige Zahlenkonstellation an einem Spielautomaten … ping, ping, ping … und ich wusste, jetzt war der Tag gekommen, an dem ich gehen musste. Endgültig gehen musste. Ich machte mich einfach auf den Weg und ging immer weiter. Als würde die Frau, die ich war, auf einmal nicht mehr existieren. Und dann versuchte ich, eine neue Frau zu erschaffen. Aber die alte war nicht wirklich tot.«
    »Verdammt«, sagte Michael. »Verdammt.« Seine Stimme klang völlig fremd. Allein der Klang ließ mich zusammenzucken. Er wandte sich zur Tür.
    »Ich kann dich nicht mehr lieben, denn die Frau, die ich geliebt habe, existiert nicht. Es hat sie nie gegeben. Wie konnte ich dir nur je vertrauen? Ich weiß überhaupt nicht, wer du bist. Aber ich schätze, das ist auch kein Wunder. Du weißt es ja selbst nicht.«
    Mir wurde jäh bewusst, dass ich ihn noch nie wütend erlebt hatte.
    Als die Tür aufging, hörte man nur das kurze erstickte Schreien der Möwen, ein Schwall eiskalte Luft drang ins Zimmer, und dann herrschte Stille. Vier Stunden später bekam ich die erste SMS von ihm. Bleib.
    Aber ich bin nicht geblieben. Denn wenn man vor einer Beziehung wegläuft, schafft man letztlich Platz für eine neue, die ungebeten an ihre Stelle tritt. Auch diese würde wieder Belastungsproben unterzogen, und wie würde ich dann reagieren – abermals davonlaufen? Ein ewiges Streben nach Freiheit, bis sie sich am Ende in Einsamkeit verwandelt?
    Und so bin ich jetzt hier, lege Schneeglöckchen auf Josies Grab, streue sie vielmehr darauf, sodass es aussieht, als würden weiße Sterne den gefrorenen Grabhügel bedecken, unter dem sie liegt. Wir stehen in einer Gruppe vor dem Grab, schweigend, nur Lily weint leise vor sich hin, die traurigen Tränen einer alten Frau, die verlorene Jahre, vergeudete Chancen betrauert. Ich mache Anstalten, zu ihr zu gehen, aber Alex kommt mir zuvor. Stevie blickt verzweifelt um sich, als würde er am liebsten flüchten, sein Gesicht wirkt blass und spitz, seine Miene gehetzt. Er ist immer noch zu jung, dieser Schwindler, der sich den Körper eines erwachsenen Mannes angeeignet hat. Ich streiche ihm zärtlich mit der Hand über den Arm.
    »Gehen wir wieder«, sage ich, weil ich spüre, wie sehr es ihn drängt, von hier wegzukommen.
    Alex führt Lily bereits zum Wagen.
    Ohne nachzudenken, streiche ich, ehe wir gehen, mit der Hand über Josies Grabstein, dann erst werde ich mir der Geste bewusst. Ich muss an Harry denken. Harry in dem weiß getünchten Cottage, in einem anderen Leben, weit, weit weg von hier. Meine Finger folgen, Buchstabe für Buchstabe, den eingemeißelten Linien ihres Namenszuges. J. O. S. I. E.
    »Komm«, sage ich zu Stevie und lächle ihm zu. Er sieht erleichtert aus, nimmt mich kurz in den Arm, bevor wir gehen.
    Lily kommt so langsam vorwärts, dass wir sie noch vor dem Tor einholen. Ein anderes Fahrzeug hat sich in der Zwischenzeit hinter unser Auto gestellt. Der Fahrer sitzt im Wagen, mit dem Rücken zum Eingang des Friedhofs. Ich sehe ein Augenpaar, das im Rückspiegel beobachtet, wie wir näher kommen. Anfangs bin ich mir nicht sicher, ob es ein Mann oder eine Frau ist, doch als wir kurz davor sind, wird klar, dass es
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