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Die verborgene Wirklichkeit

Die verborgene Wirklichkeit

Titel: Die verborgene Wirklichkeit
Autoren: B Greene
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Multiversen brauchen wir für die Anfangsbedingungen, die Naturkonstanten und selbst für die mathematisch formulierten Naturgesetze keine Erklärung mehr.
    Sollen wir der Mathematik glauben?
    Der Nobelpreisträger Steven Weinberg schrieb einmal: »Unser Fehler ist nicht, dass wir unsere Theorien zu ernst nehmen, sondern dass wir sie nicht ernst genug nehmen. Man kann sich stets nur schwerlich vorstellen, dass die Zahlen und Gleichungen, mit denen wir an unseren Schreibtischen spielen, etwas mit der wirklichen Welt zu tun haben.« 1 Damit meinte er die bahnbrechenden Erkenntnisse von Ralph Alpher, Robert Herman und George Gamow über die kosmische Hintergrundstrahlung, die ich in Kapitel 3 beschrieben habe. Die vorhergesagte Strahlung ergibt sich unmittelbar aus der Allgemeinen Relativitätstheorie in Verbindung mit einfachen physikalischen Überlegungen zur Kosmologie; berühmt wurde sie aber erst, nachdem man sie zwei Mal im Abstand von einem Dutzend Jahren in der Theorie entdeckt und dann durch eine glückliche Fügung auch beobachtet hatte.
    Natürlich muss man Weinbergs Bemerkung mit Vorsicht genießen. Zwar wurden auf seinem Schreibtisch jede Menge mathematische Berechnungen angestellt, die sich als für die Wirklichkeit bedeutsam erwiesen, aber bei Weitem nicht jede Gleichung, mit der Theoretiker herumspielen, erlangt dieses Niveau. Ohne überzeugende Beobachtungen oder experimentelle Befunde ist die Entscheidung,
welche mathematischen Ergebnisse man ernst nehmen sollte, ebenso sehr Kunst wie Wissenschaft.
    Tatsächlich ist dieses Thema für alles, wovon in diesem Buch die Rede war, von entscheidender Bedeutung, auch für den Titel. Das breite Spektrum der in Tabelle 11.1 aufgeführten Multiversums-Theorien lässt an ein Panorama verborgener Wirklichkeiten denken. Ich habe den Buchtitel aber im Singular formuliert, um auf das herausragende und herausragend packende Thema zu verweisen, das all dem zugrunde liegt: die Fähigkeit der Mathematik, geheime Wahrheiten über die Funktionsweise der Welt zu offenbaren. Über Jahrhunderte hat sich dieses Vermögen immer wieder bestätigt; immer wieder ergaben sich gewaltige Umwälzungen in der Physik dadurch, dass man energisch den von der Mathematik vorgegebenen Weg weiterverfolgte. Einsteins komplexe Auseinandersetzung mit der Mathematik ist dazu eine aufschlussreiche Fallstudie.
    Als James Clerk Maxwell Ende des neunzehnten Jahrhunderts erkannte, dass Licht eine elektromagnetische Welle ist, konnte man an seinen Gleichungen ablesen, dass die Lichtgeschwindigkeit bei rund 300 000 Kilometern je Sekunde liegen sollte – also in der Nähe der Werte, die man in Experimenten gemessen hatte. Eine quälende Frage jedoch ließen die Gleichungen unbeantwortet: 300 000 Kilometer in der Sekunde relativ wozu? Damals hielten sich die Wissenschaftler an eine provisorische Lösung, wonach eine unsichtbare Substanz, der »Äther«, den gesamten Raum erfüllen und den unsichtbaren Bezugsrahmen für die Definition eines Ruhezustands bilden sollte. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch vertrat Einstein die Ansicht, man müsse Maxwells Gleichungen ernster nehmen. Wenn sie kein Bezugssystem für den Ruhezustand auszeichneten, dann bestand auch kein Bedarf daran; die Lichtgeschwindigkeit, so erklärte Einstein nachdrücklich, beträgt 300 000 Kilometer je Sekunde relativ zu allem . Die Details sind zwar von historischem Interesse, mir geht es hier jedoch um einen anderen Punkt: Maxwells Arbeiten waren für jeden zugänglich, aber nur ein Genie wie Einstein war in der Lage, alle grundlegenden Konsequenzen von Maxwells Mathematik zu erfassen. Und indem er das tat, gelang ihm der Durchbruch zur Speziellen Relativitätstheorie, mit der er ein jahrhundertealtes Denkgebäude über Raum, Zeit, Materie und Energie über den Haufen warf.
    In den nächsten zehn Jahren erschloss sich Einstein bei der Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie riesige Bereiche der Mathematik, die den meisten Physikern seinerzeit nahezu oder völlig unbekannt waren. Er tastete sich an die endgültigen Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie heran und stellte dabei seine meisterhafte Fähigkeit unter Beweis, mathematische Konstruktionen unter Anleitung der physikalischen Intuition in eine physikalische
Theorie zu gießen. Als er einige Jahre später die gute Nachricht hörte, dass Beobachtungen während der Sonnenfinsternis von 1919 die Vorhersage der Allgemeinen Relativitätstheorie bestätigt
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