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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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von dir. Ich bin Schriftstellerin, weißt du, ich liebe Geschichten!«
    Ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen.
    Ja, das sagt sich so schön und hört sich so selbstverständlich an, aber ich brauche mich nicht einmal bemühen, den Arm zu heben. Das tue ich schon lange nicht mehr, denn sagen wir mal so, Bewegung ist nicht gerade meine Stärke. Wenn ich mich freue, tue ich das still, doch umso mehr.
    Dass sich nach so vielen Jahren jemand für meine Geschichten interessierte, war die Erfüllung eines lang gehegten Traumes. Ich schwebte auf Wolke sieben und versank in wohliger Zufriedenheit. Es war ja nicht auszudenken gewesen, dass diese viel versprechende Begegnung ein so jähes Ende nehmen würde.
    Das alles ist kaum einen Tag her. Und jetzt? Was geschieht nun mit mir? Ist mein Weg, meine Geschichte wirklich hier im Hinterzimmer des Wiener Flughafens zu Ende? Werde ich in Einzelteilen in einem blauen Plastiksack landen, der irgendwo weit vor den Toren der Stadt auf eine stinkende Müllkippe gekarrt wird? Soll es so sein?
    Etwas in mir weigert sich, das zu glauben.
    So häufig schon bin ich in scheinbar ausweglosen Situationen gewesen, aber ich habe nie aufgegeben. Im unverbrüchlichen Glauben an das Morgen habe ich viel Zeit in Dunkelheit, Einsamkeit und Angst verbracht und war doch immer der Hoffnung, dass jemand mich rechtzeitig retten würde, dass am nächsten Tag einer käme, um mich aufzuheben, mich in die Arme zu schließen und in sein Leben aufzunehmen. Und es war immer ein Mensch gekommen. Und wenn nicht am nächsten, dann doch an einem anderen Tag.
    Heute weiß ich: Mein Leben geschieht, ob ich mir nun Sorgen mache oder nicht. Ich bin ein Bär. Ich kann nie etwas am Ausgang der Dinge ändern. Fest steht aber, dass ich bis jetzt noch immer überlebt habe.
    Der Mensch sorgt sich immer als Erstes um sich selbst und glaubt, er könne den Lauf der Dinge beeinflussen. Und dann stirbt er doch. Darin liegt wohl der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Bär.
    Irgendjemand – vermutlich war es Victor, denn der war so klug – hat mal gesagt, man sei durch die Geburt zum Sterben verurteilt. Ich habe mir über diesen Satz nie wirklich Gedanken gemacht. Doch nun lässt mich die Frage nicht los, ob das nur für Menschen oder auch für Teddybären gilt.

ICH BIN
    I ch erblickte das Licht der Welt, als Alice Sheridan mir das zweite Auge annähte. Das war in Bath, am Samstag, den 16. Juli 1921, kurz vor dem Fünf-Uhr-Tee. Sie wollte mit mir fertig sein, bevor ihre Freundin Elizabeth mit dem Kuchen kam.
    »So«, sagte Alice und hielt mich am ausgestreckten Arm von sich, »das hätten wir. Hübsch siehst du aus.«
    Ich schaute aus der luftigen Höhe von ungefähr einem Meter dreißig hinunter auf eine Frau Mitte zwanzig, die in einem großen braunen Ledersessel saß, den Blick prüfend auf mich gerichtet. Sie hatte dunkelblondes Haar, sehr grüne Augen und einen großen roten Mund. Ich sah sie an, und mir wurde ganz schwindelig. Sie war schön, und ich konnte mit eigenen Augen sehen, wie sich ihr Haar in Wellen um ihr Gesicht legte, wie sich beim Sprechen um ihre Mundwinkel kleine Furchen zeigten, wie es in ihren Augen blitzte. Ich konnte sehen!
    Und aus dem roten Mund waren in ihrer warmen Altstimme die Worte gekommen, die ich soeben vernommen hatte. Meine Sinne waren zum Leben erweckt.
    Ich hörte. Ich sah. Ich war.
    Alice setzte mich auf ihrem Schoß zurecht, strich mir über den Kopf und ihre Augen wanderten aus dem Fenster.
    »William hätte dich gemocht, weißt du. Da bin ich mir ganz sicher«, sagte sie dann mit leiser Stimme und schien mich in derselben Sekunde vergessen zu haben. Sie umfasste mich von hinten fest und sicher, wie man einen Säugling hält. Und während ich zum ersten Mal mein neues Zuhause sah, verlor sich ihr Blick im Grau vor dem Fenster.
    Es ist dieser Moment, diese Umarmung, die mir als erste deutliche Erinnerung geblieben ist: Alices warme Hand auf meinem Bauch und die Ruhe und Vertrautheit, die in dieser Geste lagen. Doch wie prägend diese Sekunden waren, ging mir erst viel, viel später auf.
    Ich war in jenem Augenblick so aufgeregt und so sehr damit beschäftigt, meine Umgebung wahrzunehmen, dass es mich nicht einmal störte, dass Alice mit ihren Gedanken ganz woanders war. Überwältigt von den Eindrücken, die auf mich einstürzten, saß ich da: Bilder, Geräusche, Gerüche – ich war wie berauscht. Es war herrlich, auf der Welt zu sein!
    Ich sah alles: Alices Finger
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