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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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weggegangen, um seinen Kollegen mit dem Messer zu holen, oder womit auch immer er gedenkt, mich aufzuschneiden. Er hat das Büro dreifach abgeschlossen. Es ist ein schreckliches Gefühl. Ich habe Angst, und ausnahmsweise nicht um jemand anderen, sondern um mich. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es überlebe, wenn man mir die Brust aufschneidet und die Liebe herausnimmt.
    So. Jetzt ist es gesagt.
    Der graue Etwas in meiner Brust, das ist die Liebe . So hat Alice es damals erklärt, also ist daran nicht zu rütteln. Und sie hat auch gesagt, dass es das Wertvollste ist, was es gibt. Das können sie mir doch nicht einfach wegnehmen!
    Manchmal werden Menschen aufgeschnitten und ihnen wird etwas herausgenommen. Einige überleben das. Ich habe lange genug bei Bernard gelebt, um das genau zu wissen. Aber kann man auch einen Bären aufschneiden und die Liebe entfernen, ohne dass er dabei stirbt? Diese Ungewissheit macht mich ganz krank.
    Dabei fing die Woche so gut an. Was heißt gut, sie fing blendend an. Die Schriftstellerin hatte mich aus dem eintönigen Dasein einer Schaufensterdekoration befreit. Ich hatte nicht drei, sondern fünf Jahre dort gesessen, doch das wusste sie natürlich nicht, als sie den Beamten belog.
    Fünf Jahre mit der gleichen Aussicht, im wechselnden Licht von Sonne und Straßenlaternen. Fünf Jahre mit unzähligen Menschen, die sich am Fenster die Nasen platt drückten und doch nie hereinkamen. Gleichförmig flossen Wochen, Monate und Jahre ineinander. Und ab und an fuhr ein Fiaker vorüber.
    Auf Regen folgte Sonnenschein. Manchmal war Sommer, manchmal Winter. Im Sommer blieben häufiger Leute stehen. Kinder, die mich und die anderen im Fenster anstarrten, mit hungrigen Augen, und auf mich zeigten. Eltern, die nach wenigen Minuten die Kinder an der Hand nahmen und ungeduldig weiterzogen. Im Winter eilten eigentlich alle vorüber. Die Mantelkrägen hochgeschlagen, die Mützen tief ins Gesicht gezogen.
    Es war eine ruhige Zeit. Die letzten fünfzehn Jahre waren eine ruhige Zeit. Zu ruhig, wenn es nach mir geht. Ich bin ein Bär, der viel erlebt hat, einer, der lieber mal im Eifer des Gefechts herunterfällt, als hinter Glas in Schönheit zu sterben. Aber es ist eindeutig, dass ich als Spielzeug wirklich nicht mehr gefragt bin. Die Leute. Sie schauen mich an wie ein Relikt grauer Vorzeit. Sie erkennen vielleicht in den Tiefen ihres Herzens eine Sehnsucht nach einem Spielzeug, wie ich es bin. Doch man spielt heute anders als zu der Zeit, als ich entstand. Das habe ich in den letzten Jahren gelernt: Alles muss schnell gehen, einen Effekt haben und diesen nach Möglichkeit vollautomatisch. Und so bin ich nicht. Zum Glück. Oder leider?
    Einmal traute sich ein kleines Mädchen nach langem Schaufenstergucken schließlich in den Laden und fragte den alten Ferdinand:
    »Was kann der denn?« Dabei zeigte sie auf mich.
    »Wie meinst du das?«, fragte er zurück.
    »Na ja, kann er irgendwas?«
    »Er kann Geschichten erzählen, wenn du gut hinhörst.«
    »Sonst nichts?«
    »Nein. Sonst nichts.«
    »Wie blöd«, sagte sie enttäuscht und dann: »Auf Wiederschaun.«
    Die Türglocke bimmelte, als sie hinausging.
    Ich blieb also, wo ich war, und hatte genügend Zeit, Bilanz zu ziehen. Ich war ausrangiert und überflüssig und wähnte mich am Ende meines Bärenlebens. Ist das nicht Grund genug, sich ein bisschen leid zu tun? Ich ahnte schließlich nicht, was auf mich zukam. Wenn ich meine jetzige Situation genau besehe, frage ich mich auch, ob ich im Schaufenster nicht besser aufgehoben war.
    Aber wie gesagt, die Woche fing blendend an. Vorgestern Nachmittag war besagte junge Frau in den Laden gekommen und mit ihr eine Ahnung frischer Frühlingsluft.
    »Grüß Gott«, sagte sie in das graue Zwielicht des Ladens. Niemand antwortete. Es blieb ganz still, nur das bedächtige Ticken der großen Standuhr war zu hören.
    »Hallo?«, rief sie. »Ist hier jemand?«
    »Ja, ja«, brummte es aus dem Dunkel. »Was ist denn los.«
    Ferdinand tauchte hinter einem Bücherregal auf, und das Schlagwerk der Uhr kündigte mit einem leisen Klicken an, dass bald wieder eine neue Stunde eingeläutet würde.
    »Ich wollte fragen, was der Bär im Fenster kostet«, hörte ich sie sagen.
    »Welcher?«
    »Der mit dem schiefen Kopf.«
    »Der ist alt.«
    »Ja«, sagte sie. »Das sieht man. Wie alt denn?«
    »Mindestens siebzig, eher achtzig Jahre«, sagte Ferdinand.
    »Und was kostet er?«
    »Wie gesagt, er ist alt.«
    »Ja«, sagte
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