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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums
Autoren: Anne de Witt
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die Türklinke niederzudrücken und den Salon zu betreten.
    Dr. Lutter hatte am Fenster gestanden und hinausgeblickt. Als er die Tür hörte, wandte er sich um, sein Blick erfasste Anna Lisas Blick, und in dem Augenblick wusste sie, dass ihre Sorgen überflüssig gewesen waren. Vor ihr stand, wenn auch mit angegrauten Schläfen und scharfen Falten zwischen Mund und Nase, derselbe Mann, der ihr erster bester Freund gewesen war. Dieselbe warme Welle wie damals überschwemmte sie.
    »Dr. Lutter!« Sie eilte ihm mit ausgestreckten Händen entgegen. »Was für eine Freude, Sie wiederzusehen!«
    Er nahm ihre Hände, umschloss sie mit einem festen, tröstlichen Griff. »Es freut mich, dass Sie meinen Besuch so aufnehmen … Ich wusste nicht, ob es nicht unschicklich ist, so kurz nach dem Tod Ihres Gatten … aber dann dachte ich, wenn ich nicht schnell zugreife, kommt mir womöglich ein anderer Bewerber zuvor. Und ich machte mir Sorgen, es könnte vielleicht jemand Ihre Einsamkeit ausnutzen …«
    Sie lächelte ihn an. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Der Tee wird gleich gebracht.«
    Sie setzten sich in die beiden mit Brokat bezogenen Sessel, die einander vor dem Kamin gegenüberstanden. Das Dienstmädchen kam mit dem Tee. Sobald sie wieder verschwunden war, saßen die beiden einander eine Weile in verlegenem Schweigen gegenüber. Dr. Lutter empfand sehr deutlich die Barriere, die ihre Trauerkleidung zwischen ihnen aufrichtete; er hatte immer noch das Gefühl, in die Rechte eines anderen Mannes einzudringen, wenn er sich der seit Langem heimlich geliebten Frau näherte. Schließlich nahm er das Gespräch auf, indem er nach ihren Kindern fragte.
    »Jakob ist nicht hier; er ist auf See. Zurzeit auf einem Handelsschiff, aber ich glaube, er wird nicht lange dabei bleiben. Das Kaufmännische ist ihm ganz fremd. Was ihn reizt, sind Expeditionen in ferne, unerforschte Länder.«
    »Und Ihre Tochter? Wird sie mit Ihnen – mit uns kommen?«
    »Nein. Sie hat mich gleich nach dem Tod ihres Vaters gebeten, ein Internat besuchen zu dürfen, und ist zu den Englischen Fräulein gegangen; dort legt man viel Wert auf eine gute Ausbildung. Sie möchte später am Frauencollege in London studieren. Botanik, was sonst.« Leise Bitterkeit klang in ihrer Stimme mit, als sie hinzufügte: »Für Simone war ihr Vater ihr Ein und Alles. Der Rest der Familie interessierte sie nicht. Wenn das Kindermädchen sie einen Moment von der Hand ließ, rannte sie zu Simeon, nicht zu mir. Aber es hat ihn glücklich gemacht, dass sie beide so ein Herz und eine Seele waren.« Tränen traten ihr in die Augen, und sie tupfte sie mit dem Taschentuch weg.
    Dr. Lutter sagte leise: »Wenn es noch zu früh ist … Ich kann warten.«
    »Nein. Nein.« Anna Lisa richtete sich entschlossen auf. »Das ist nicht notwendig. Dieser Teil meines Lebens ist abgeschlossen. Ich möchte ein neues beginnen.«
    »Dann bitte ich Sie um eine baldige Hochzeit, denn meine Stelle am europäischen Hospital in Batavia wartet auf mich.«
    Für Anna Lisa – jetzt Frau Dr. Lutter – war es ein seltsames Déjà-vu-Erlebnis, als sie an einem feuchten Spätwintertag von Neuem an Bord eines Überseedampfers ging. Es war nicht mehr die inzwischen veraltete Anne-Kathrin, sondern ein neues, hochmodernes Schiff mit dem stolzen Namen Elbvogel, aber als die Reisenden inmitten von Lärm und Gedränge das steile Fallreep hinaufstiegen, war es, als brauchte sie sich nur umzudrehen, um Simeon hinter sich zu sehen. Auch Tietjens’ Schatten begleitete sie an Bord. Von den Lebendigen, die sie damals um sich gehabt hatte, war nur noch Pahti da, der mit ihr nach Java zurückkehrte, um den Rest seines Lebens unter seinem Volk zu verbringen. Wohnen würde er jedoch weiterhin unter dem Dach seiner früheren Herrin, wenn auch nicht mehr als Bediensteter, sondern als Pensionär. Ohne seine ständige treue Fürsorge, das wusste Anna Lisa besser als jeder andere, wäre Simeons Leben noch viel elender gewesen, als sein Unglücksstern es gefügt hatte.
    Sie mussten sich beeilen, denn schon ertönte das lang gezogene Tuten der Dampfpfeife und warnte die Passagiere zum ersten Mal, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Matrosen das Fallreep einholten und die Leinen losmachten. Auf diese Warnung hin verdoppelte sich die Hektik, das Geschrei war ohrenzerreißend. Anna Lisa schob die Hand unter den Arm ihres Mannes und hielt sich an ihm fest, um in dem Gedränge nicht umgestoßen zu werden. Von allen
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